Ihre Browserversion ist veraltet. Wir empfehlen, Ihren Browser auf die neueste Version zu aktualisieren.
Kapitel 1

Die Bird of Prey

Mit einem Plong… öffnet sich eine Nachricht auf dem Bildschirm des Laptops. Ein Termin für heute, Mittwoch, den 20. Januar 1999, wird angekündigt. Léon erwacht nur langsam, als würde er aus der schwerelosen Tiefe des Meeres kommen. Auf dem Sofa liegend befühlt er die schmerzende Stelle am Kopf. Der lichtdurchflutete Raum verengt seine Augen zu schmalen Schlitzen, die ihn nur langsam die Wirklichkeit erkennen lassen. Müde und angestrengt gleitet sein Blick durch das Zimmer, weicht dem Licht aus und bleibt auf der gebogenen Fensterfront hängen. Beim Aufrichten spürt er in all seinen Muskeln ein Ziehen. Bitter ist das. Doch es sind nicht die Schmerzen, die ihn plagen; eine bleierne Schwere scheint den Körper in seiner Bewegung zu lähmen. Mit einem trägen Griff fischt er ein paar Socken aus dem Aktenschrank, noch einmal ein beiläufiger Blick auf die Termininfo.

Ohne Frühstück setzt sich Léon in seinen Wagen und macht sich auf den Weg nach Werder. Er mag diese verträumte, ruhige Insel mit den alten Häusern, krumm und schief gebaut, durch dessen Mauerwerk manchmal ein verkrüppelter Baum wächst. Er fährt über eine Brücke, hält an und steigt in einer mit Holzbuden gesäumten Gasse aus. Vor den Buden stehen große Räucheröfen und an den vom Qualm geschwärzten Simsen hängen getrocknete Fischköpfe. Sie stehen Spalier und weisen im Sommer den Weg ins Inselvergnügen.

Jetzt ist es eiskalt. Der Zernsee ist zugefroren und Léon befürchtet, dass der Schnee seine schwarz polierten Lederschuhe aufweichen wird. Geduldig muss er warten und versucht sich an den bärtigen Mann zu erinnern, der auf der Düsseldorfer Bootsmesse so viel Interesse an der drahtlosen Internettechnik gezeigt hatte. Wartend und frierend blickt Léon auf die Eisfläche des Sees hinaus. Der Ruf einer Nebelkrähe verhallt und der Wind pfeift ihm erbarmungslos um die Ohren. Schließlich macht er kehrt und stapft dem Bootsgelände entgegen.
Auf der Wiese stehen zahlreiche Segelyachten auf schmalen Kielen. Jedes Boot wird durch vier Stahlstützen in der Balance gehalten. Das Gras ist vom Schnee gepudert, nur unter den Booten, die unter den Planen geduldig auf den Sommer warten, befindet sich noch trockener Boden. Fröstelnd atmet Léon tief durch und schaut sich einen wuchtigen Rumpf aus nächster Nähe an. Wäre da nicht der tonnenschwere Kiel, würde die Yacht mit ihrer bauchigen Form wie ein Fass im Wasser rollen. Léon liebt es, die Kielformen der Schiffe zu vergleichen.
Als er träumend an der Bordwand hochsieht, hört er Schritte durch den Schnee knirschen. Léon dreht sich um, und sein Kunde kommt schmunzelnd mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.
„Ich dachte eigentlich, dass sie mir etwas verkaufen wollen und nicht ich Ihnen“, beginnt Fischer das Gespräch.
„Genug Geld müsste man haben“, antwortet Léon noch von der Segelyacht träumend.
Nach einem kräftigen Händedruck vergräbt Fischer die Hände in seinen weiten Hosentaschen, zieht an seiner Seemannspfeife und lässt nachdenklich den Rauch aus den Mundwinkeln abziehen.
„Sie sind doch Ingenieur und mit Technik vertraut?“
Mit der linken Hand rafft Léon den Wollmantel enger und merkt dabei, wie seine Schuhe im Schneematsch feucht und seine Füße kalt werden.
„Ja - und?“, fragt er ungeduldig, um zu erfahren, worauf sein Gegenüber hinaus will. Er wendet sich bereits, um Herrn Fischer zum Gehen zu drängen.
„Was für eine Yacht soll es denn mal werden?“
Léon ist überrascht, dass sein Kunde ihn nicht gehen lässt. Bei einer Tasse heißen Tees würde es ihm gefallen, eine Detailbeschreibung seines Traumschiffes zu liefern. Jetzt aber friert er und weiß nichts mit dem Interesse eines Gebrauchtboothändlers anzufangen. Kurz und knapp fällt daher seine Antwort aus.
„Ein Segelschiff.“
„Es gibt viele Wege, um an ein Boot zu kommen“, entgegnet Fischer freundlich.
Léon wird neugierig. Denn – welche Möglichkeiten gibt es, eine Yacht zu erwerben, wenn nicht mit viel Geld?
„Verfügt man nur über geringe finanzielle Mittel, schaut man sich nach einem reparaturbedürftigen Schiff um“, erklärt Fischer mit einem verschmitzten Blick aus pfiffigen grauen Augen.
Hm, denkt Léon, aber auch eine reparaturbedürftige
Yacht wird nicht billig sein. Enttäuscht sieht er in den trüben verhangenen Himmel und sagt dann, um höflich zu bleiben:
„Sicher, mir ist aber noch nie etwas Passendes untergekommen.“
„Vielleicht habe ich da was für sie. Dort drüben, in der alten Bootshalle, steht in der hinteren Ecke die Bird of Prey, diese Yacht würde zu Ihnen passen“, pariert Fischer und zeigt mit der ausgestreckten Hand in eine Richtung am Wasser. „Es ist ein besonderes Schiff, welches über einen hydraulischen Hubkiel verfügt. Durch diese Konstruktion kann es tiefe und auch flache Gewässer befahren. Kommen sie doch einmal mit“, fordert Fischer Léon auf, ohne ihm die geringste Chance zu lassen, abzulehnen.
Er packt Léon an der rechten Schulter und führt ihn zu einem Blockhaus am Ufer. Bevor Léon etwas sagen kann, ist Fischer in der Hütte verschwunden. Als er kurz darauf wieder herauskommt, hält er eine Taschenlampe und einen Anhänger aus Messing mit zwei Schlüsseln in der Hand. Diesen überreicht er Léon und bemerkt knapp:
„Sie können sich ruhig Zeit lassen, unsere Zusammenarbeit läuft uns nicht davon!“
Verdutzt liest Léon den eingravierten Bootsnamen Godewind 1932 und betrachtet das geprägte Wappen auf dem Kopfende des zylindrischen Anhängers - eine Art Ritterschild, durch ein breites Kreuz in vier Feldern geteilt. Eine Antiquität, denkt Léon, oder ein Andenken von einem alten Schiff. Überrumpelt und ohne ein weiteres Wort geht er wie ferngesteuert in die Richtung der alten Bootshalle. Er ist froh, seine eiskalten Zehen bewegen zu können und der Anlass, weshalb er sich mit Fischer treffen wollte, ist in diesem Moment vergessen. An der Halle angelangt, schiebt er mit einem polternden Geräusch das große Holztor zur Seite und blickt in einen schwarzen Raum, in dem selbst die Wände nicht zu erkennen sind. Es riecht nach rohem Holz und frischem Lack, so, wie er es schon oft gerochen hat. Erst nach und nach können seine Augen ein paar Gegenstände erkennen. Er entdeckt eine Werkbank mit Gläsern, voll gestopft mit gebrauchten Pinseln, und neben dem Schraubstock liegen verrostete Werkzeuge, die sich durch den dicken Staub kaum von der Werkbankoberfläche abheben. Schließlich haben sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und so lassen sich im hinteren Teil der Halle drei Boote ausmachen, die durch das fahle Oberlicht ein wenig beleuchtet werden. Léon sucht nach einem Weg, um in die hinterste Ecke zu kommen. Er geht an einem Langkieler vorbei. Dahinter, fast verdeckt von einem Motorboot, wird eine hochgezogene Kielbombe sichtbar, wie sie bei Rennyachten verwendet wird. Er nähert sich langsam. Schnell wird sie sein, denkt Léon, denn er kann an der steilen Bugform erkennen, dass beim Bau des Schiffes auf eine lange Wasserlinie Wert gelegt wurde. Der Rumpf ist schwarz, am Heck unterhalb der weißen Designlinie steht mit weißen Buchstaben der Schiffsname Bird of Prey geschrieben. Um auf das Schiff klettern zu können, zieht Léon ein leeres Ölfass mit lautem Getöse heran. Nach Halt suchend greift er beim Aufsteigen mit seiner linken Hand in eine weiche, pelzige Masse. Eklig ist das! Eine tote Katze. Angeekelt reibt er seine Hände an einer Holzlatte. Er nimmt diese in die Hand und fegt den Kadaver mit Schwung von der Heckplattform, wobei ihm der süßliche Geruch der Verwesung in die Nase kriecht. Flach atmend steigt er auf das Fass, von dort auf die Stufen der Heckplattform. Oben im Cockpit schlägt er die halbzerrissene Plane zur Seite. Trockener Staub erfüllt die Luft. Fingerdick liegt der Schmutz auf dem Teakdeck. Das zersprungene Kompassglas lässt auf einen miserablen Zustand des Schiffes schließen. In der Steuersäule fehlen alle nautischen Instrumente. Nur die Form der offenen Aussparungen lässt vermuten, welches Gerät dort einmal eingebaut war. Mit dem Schlüssel schließt Léon das Türschott auf und schiebt die Einstiegsluke vom Niedergang mit einem schleifenden Geräusch weit nach vorne. Bevor er hinuntersteigt, wischt er sich mit einem auf dem Boden liegenden Lappen eine Stelle zum Hinsetzen frei, massiert seine vor Kälte schmerzenden Finger und hört, wie das Schmelzwasser von dem Wellblechdach der Halle rinnt. Mit der Taschenlampe leuchtet er von oben in das Schiff hinein. Die Mahagoniverkleidung hängt von den Wänden. Zahlreiche Bücher, Leinen und die nautischen Geräte aus der Steuersäule liegen wild verstreut auf dem Boden. Léon steht auf, mit eingezogenem Kopf klettert er Stufe um Stufe den Niedergang hinunter und taucht in den Bauch des Schiffes ab. Seltsam, auch hier wird er den süßlichen Verwesungsgeruch nicht los. In allen Räumen stehen die Schränke und Schubladen weit offen. Die Polster der Sitzbank sind zerfetzt und der weiße Schaumstoff liegt verteilt auf dem Boden umher. In der Nasszelle ist der Spiegel zerbrochen. Selbst das Waschbecken wurde mit Gewalt heraus gerissen. Vorsichtig sieht sich Léon in dem Chaos um. Bei jedem Schritt knirscht es unter seinen Füßen. Am Navigationstisch fällt sein Blick auf ein vergilbtes Foto, auf dem eine rosafarbene Villa zu sehen ist. Merkwürdig bei all dem Durcheinander ist, dass die elektronischen Geräte wie
Echolot, Windmesser, Radar, GPS und das Funkgerät zwar gewaltsam ausgebaut, aber nicht entwendet wurden. Sie liegen zerstreut am Boden. Kein normaler Eigner würde so sein Schiff verlassen, auch wenn ihm der Spaß am Segeln gründlich vergangen sein sollte. Da selbst der Gasherd der Pantry nicht mehr an seinem üblichen Platz ist, ahnt Léon, wird es Monate dauern, dieses Schiff wieder in Ordnung zu bringen. Dennoch! Ein Segelschiff dieser Größe hat er noch nie vorher von innen gesehen, aber die Bird of Prey ist genau die Art Schiff, die sich Léon für sich vorstellen könnte.
Zeitvergessen klettert er von der Yacht und begibt sich wieder zum Gebrauchtboothändler. Im Büro angekommen, findet er Fischer beim Telefonieren vor. Als Fischer ihn hereinwinkt und das Gespräch beendet, setzt sich Léon auf einen Stuhl an seinen Schreibtisch. Fischer schenkt Léon eine Tasse Tee ein und gibt einen Schuss Rum dazu.
„Sie scheint Ihnen gefallen zu haben“, beginnt Fischer das Gespräch und sieht dabei auf die Uhr an der Wand.
„Was ist mit diesem Schiff passiert?“
Fischer wirkt unschlüssig, betrachtet Léon eindringlich, bevor er antwortet.
„Eine Tragödie.“
Dann macht er eine Pause und überlegt wieder.
Erwartungsvoll setzt sich Léon auf die vordere Kante des quietschenden Stuhls.
„Der Eigner kam auf fürchterliche Weise zu Tode“, beginnt Fischer zu erzählen.
„Ein Mord?“, poltert Léon ungeduldig heraus.
„Schlimm war das. Es geschah vor neun Jahren, seitdem steht die Bird of Prey in der hintersten Ecke der Halle. Kein Mensch hätte damals geglaubt, dass dieses wunderbare Schiff einmal so vor sich hin modern würde“, beginnt Fischer umständlich die Geschichte zu erzählen.
„Was ist passiert?“, drängt Léon ihn.
„Mein Freund Robert Sander wurde von den Mördern im Salon an die Maststütze gebunden und schließlich mit der bordseigenen Winschkurbel erschlagen.“
Fischer macht wieder eine Pause, wartet, damit Léon etwas sagen kann.
„Was wollten die von ihm?“
„Das hat sich die Polizei damals auch gefragt. Sie befragten die Familie und deren Angehörige. Nur den Grund der Tat haben sie nie erfahren. Sie tappten im Dunkeln und nach Jahren legten sie den Fall zu den Akten, obwohl unser Bootswart relativ genaue Angaben machen konnte. Er beschrieb einen der Täter als kräftigen Mann mittleren Alters, der ihm deshalb auffiel, weil er über den Steg an Land humpelte.“
„Er wurde verletzt?“
„Das nimmt auch die Kriminalpolizei an.“
„Wem gehört die Bird of Prey jetzt?“
„Die Schwester erbte damals die noch neue Yacht. Da sie aber in Miami lebt und seit Jahren keine Hallenmiete gezahlt hat, wurde mir klar, dass sie dieses Schiff nicht mehr wollte“, stöhnt Fischer, dabei zieht er wieder an seiner Pfeife. „Schließlich musste ich die Yacht übernehmen, weil keiner ein Schiff haben will, das nach Mord und Verwesung riecht. Das ist jetzt lange her. Und nun ist Staub der wahre Eigner.“
„Es war sicherlich ein schönes Schiff“, erwidert Léon verträumt, als wenn es sich um eine Frau handelte, deren jugendliche Schönheit mit den Jahren verblasst ist.
Er setzt sich zurück und macht es sich im Stuhl bequem.
„Ja, eine herrliche Yacht – und das könnte sie wieder werden.“
Bei diesen Worten sieht Fischer Léon hoffnungsvoll an.
„Sie sagten sie sei ein besonderes Schiff.“
„Richtig! In dieser Form wurde sie nur einmal gebaut. Ich erinnere mich noch gut, als das Schiff geliefert wurde, denn so viel Hydraulik hatte ich vorher an einer Yacht noch nicht gesehen. Begeistert, wie ich war, führte der Eigner mir den hydraulischen Jüttbaum vor. Per Knopfdruck konnte er damit den Mast alleine legen. Dabei erzählte mir Robert Sander von seinem Törn, den er damals plante.“
„Wo wollte er denn hin?“
Wieder überlegt Fischer, als wenn er doch nicht darüber reden will.
„Nach Vineta“, presst Fischer die Lippen zusammen.
„Vineta, die versunkene Stadt an der Ostsee. Die gab es doch gar nicht.“
„Der Legende nach schon.“
„Und wie wollte Robert Sander das anstellen? Eine Stadt finden, die nie real war.“
„Das wollte mir Robert nicht verraten. Dennoch glaubte er, sie zu finden.“
„Glauben sie, dass es die Stadt je gegeben hat?“
„Wenn, dann würde ich nach ihr suchen.“
„Hm…, was passiert jetzt mit dem Schiff?“
„Wenn sie wollen, können sie die Bird of Prey haben.“
„Ich kann die Yacht haben?“, wiederholt Léon die Worte von Fischer und spürt sein Herz pochen, weil sich Wunsch und Wirklichkeit für ihn nicht mehr trennen lassen.
„Wenn sie sich die Reparaturen zutrauen, dann treffen wir eine Vereinbarung!“
Ungläubig hört Léon ihn sagen: „Kein Geld!“ Dabei beugt sich Fischer vor, blickt ihm ernst, aber mit wachen Augen ins Gesicht und zündet sich wieder seine Pfeife an.
„Wie soll ich das verstehen, was meinen sie mit Vereinbarung?“, stammelt Léon.
„Ganz einfach. Sie kümmern sich hier um die WLAN Technik und um die Bird of Prey, dafür dürfen sie die
Yacht nutzen, so oft und so lange, wie sie möchten. Und noch etwas. Jeder Besitzer soll seine Yacht über das Internet betrachten können. Dazu brauchen wir Webcams auf dem Gelände und auf allen Stegen.“
Von den Forderungen überrascht, sieht Léon Fischer sprachlos mit weit aufgerissenen Augen an. Seine Gedanken rasen. Er kann nicht klar denken, überlegt angestrengt, erkennt dann die Gelegenheit.
„In Ordnung! Machen wir es so!“, schlägt Léon begeistert ein.
Nach ein paar Formalitäten verabschiedet er sich von Fischer. Vor Kälte und Aufregung zitternd setzt er sich fassungslos in seinen Wagen, startet den Motor und macht sich auf den Heimweg. Er fährt Landstraße, langsam, unkonzentriert. Seine Gedanken rotieren, können nicht verarbeiten, was eben geschah. Er versucht sich an den gestrigen Tag zu erinnern, spürt plötzlich wieder die Schwere seines Körpers, befühlt die raue Wunde an der Nasenwurzel. In seinem Kopf arbeitet es noch immer, als er den Wagen vor seinem Büro abstellt und die Eingangstür aufschließt. Wie gewohnt leert Léon seine Hosentaschen und findet den Anhänger mit dem Bootsschlüssel darin. Er hatte vollkommen vergessen, den Schlüssel zurückzugeben, aber dann fällt ihm ein, dass der jetzt ihm gehört. Léon wird langsam bewusst, dass er nun tatsächlich über eine Yacht verfügt, auch wenn diese noch für lange Zeit auf dem Trockenen stehen wird.
Gleich am nächsten Morgen vereinbart Léon mit Fischer einen Termin. Er will die Bird of Prey nach draußen verholen, damit er sie bei Tageslicht einer genaueren Bewertung unterziehen kann. Nur wenig später ist Léon vor Ort. Fischer, sein Gehilfe und Léon packen sofort an. Es dauert den halben Tag, einen Weg durch die voll gestellte Halle zu bahnen. Mit dem Traktor fährt Fischer einen Trailer unter das Boot und zieht die Yacht von ihrem Schlafplatz. Draussen stellt er das Gespann vor der Halle ab. Als das Schiff schließlich im Sonnenlicht steht, kann Léon die Beschläge, die sich an Deck befinden, kaum erkennen. Der Staub liegt zentimeterdick auf den Aufbauten und Léon beschließt, den Schmutz mit einem Dampfstrahlgerät zu beseitigen. Staub und Spinnweben haben das Schiff in all den Jahren wie eine Patina bedeckt sowie eine zähe Schicht gebildet, die er nun mit der Kraft des Wasserdrucks beseitigt. Wasserdampf steigt auf und schon kann Léon sehen, welche Arbeit auf ihn zukommen wird. Endlich hat er am Heck die letzte Stelle frei gespült. Er stellt das knatternde Gerät ab und wartet bis sich der Sprühnebel verzieht. Das Wasser perlt von der Bordwand, da beginnt der tiefschwarze Rumpf wie ein Spiegel zu glänzen. Léon klettert die Leiter hoch. Oben betrachtet er zufrieden das tadellose Teakdeck. Wie ein Schuljunge fühlt er die gleiche ungetrübte Freude, als er erkennt, dass die Bird of Prey, bis auf die Instrumente in der Steuersäule, von außen nur wenig beschädigt ist. Dennoch wird er Wochen brauchen, um festzustellen, was fehlt, defekt ist oder nur gereinigt werden muss. Beim Aufräumen fällt ihm wieder das alte Foto mit der Villa in die Hände. Er hält es hoch und entdeckt darauf zwei Männer. Lustig, denkt Léon sich. Bei dem einen ist der weiße Bart genauso in der Mitte geteilt wie der scharfe Scheitel auf dem Kopf. Der andere wirkt mit Zwirbelschnauzbart, aufrechtem Blick und Stock in der rechten Hand aristokratisch. Als die Arbeit für diesen Tag getan ist, holt sich Léon eine Thermoskanne mit Kaffee aus seinem Wagen, kommt zurück und setzt sich hoch oben hinter das Steuerrad. Beim Trinken spürt er, wie das heiße Getränk ihn innerlich wärmt. In Gedanken versunken betrachtet er das Deck, bis sein Blick auf die goldgelbe Hutmutter des Steuerrads fällt. Sie ist verschrammt und matt. Dagegen scheinen die Speichen des Steuerrades, ohne einen Kratzer, wie neu zu sein. Die Mutter ist wie der Schlüsselanhänger aus Messing, das Steuerrad selbst aus Edelstahl, und Léon ist sich sicher, dass Form und Stil genauso wenig zusammenpassen wie der alte zylindrische Anhänger zum Zündschlüssel der Bird of Prey. Mit einem kräftigen Ruck lässt sich die Hutmutter mit der Hand abschrauben, und Léon beschließt, sie zum Polieren mit nach Hause zu nehmen. Er steckt sie in seine Hosentasche und klettert von Bord. Da er Fischer nicht sehen kann, macht er sich ohne zu verabschieden auf den Weg.

Zu Kapitel 2: Ein Stück Leinenpapier