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Kapitel 14

Des Rätsels Lösung


Flocke ist in der Frühe als Erster wach. Mit der Sonne frischt der Wind auf und klare Luft verbessert die Sicht auf mehrere Seemeilen.
Mit brummendem Schädel haben sich Flocke und Stinger die Joggingschuhe gegriffen, um am Ufer des Krumminer Wiek zu laufen. Als beide wieder zurückkommen und laut redend das Schiff betreten, wachen Mira und Léon von dem Gepolter an Deck auf. Mira klettert nur mit einem Slip bekleidet aus ihrer Koje, öffnet die Tür und erntet von Flocke einen vertikalen Blick.
„Jetzt weißt du, wie eine Frau aussieht, kann ich mich jetzt waschen gehen?“, wird Mira gleich frech.
Mit dem Frühstücksteller in der Hand setzt er sich verwirrt auf die Polster der Bank. Stinger amüsiert sich über diese ulkige Situation.
Es wird gefrühstückt, und nur wenig später sind die Vier bereit, den entscheidenden Teil der Fahrt zu beginnen. Mit warmer, vor Wind schützender Kleidung steht die Crew an Deck. Sie lösen die Leinen, holen das Stromkabel ein und warten auf das Kommando zum Ablegen. Léon nickt und Stinger wirft die letzte Leine los. Rückwärts bewegt sich die Bird of Prey aus der Box. Nur wenig später sind sie auf dem Boddengewässer. Der Windmesser zeigt fünf Windstärken an. Groß- und Vorsegel werden gesetzt. Auf Vorwindkurs fahren sie an den Untiefentonnen von Gralswiek vorbei. Bei Wolgast hat eine Fregatte der Bundesmarine festgemacht und nimmt der Bird of Prey den Wind aus den Segeln. Während die Brise um das mächtige Kriegsschiff dreht, kommt die moderne, in hellblau gestrichene Klappbrücke von Wolgast in Sicht. Zuschauer stehen auf der Brücke und wollen erleben, wie die mächtigen Ausgleichgewichte die neue Brücke öffnen. Schnell bewegt sich die Bird of Prey auf die Brücke zu. Zu schnell, Léon schaut nervös auf die Seekarte, um die Öffnungszeiten zu kontrollieren.
„Sie müsste jetzt aufgehen!“, Léon ist irritiert und starrt auf die Signallampen.
„Willst du durchsegeln?“, fragt Stinger, der ebenfalls auf die verschlossene Brückendurchfahrt blickt.
„So habe ich es geplant, oder willst du noch mehr Segel einholen und setzen üben?“, grummelt Léon.
Stinger schüttelt den Kopf.
Dann beginnt sich der bewegliche Teil der Brücke allmählich zu heben. Léon muss Speed aus dem Boot nehmen, um das Schiff nicht am Stahlträger der Brücke bersten zu lassen.
„Fier auf die Schoten!“, ruft Léon.
Flocke öffnet die Curryklemme der Großschot, das Segel beginnt zu flattern und Stinger fiert die Genoaschot. Nur langsam verliert die Bird of Prey an Speed und Léon wünscht sich in Gedanken eine Bremse. Endlich schwenkt der Brückenarm lautlos in lichte Höhe, bis der Klappteil am Anschlag anliegt. Die Signallampe schaltet auf gelb. Beim umschalten auf grün schallt eine blecherne Stimme aus dem Lautsprecher vom Brückenwärterhaus:
„Noch so ein Ding und die Brücke bleibt für euch das nächste Mal zu!“
Mira, Flocke und Stinger zucken zusammen. Léon legt den Kopf in den Nacken, schaut in den Himmel zum höchsten Punkt der Brücke, dann tiefer zum Brückenwärterhaus. Aber er kann nur eine Horde Schaulustiger erkennen.
„Hol an die Schoten!“, befiehlt Léon.
Flocke und Stinger ziehen an den Leinen. Sofort neigt sich die Yacht sanft zur Seite, nimmt Fahrt auf und jagt mit mächtigem Segel auf die enge Öffnung zu. Plötzlich schnellen von Backbord zwei Motoryachten heran und versuchen, die Vorfahrt zu erzwingen. Noch vor der Durchfahrt droht die Bird of Prey mit ihnen zu kollidieren. Wellen schwappen zurück und rühren das Wasser auf. Immer näher müssen die Schiffe zusammenrücken, so dicht, dass Léon fast die Augenfarbe der Skipper erkennen kann. Die kleinere Yacht ist zu langsam und wird in das Kielwasser der Bird of Prey versetzt. Da setzt die größere Motoryacht zum Überholen an. Flocke und Stinger trimmen die Segel neu, als eine Böe das riesige Tuch erfasst. Die Bird of Prey wird nach vorn gezerrt, schießt durch die Durchfahrt hindurch und erhält den Beifall vom Publikum.
Wieder ertönt die dumpfe blecherne Stimme:
„Das nächste Mal bleibt die Brücke zu!“
Stinger und Léon sehen sich erst verdutzt an.
„Zwei Schiffe, ein Rennen!“, lachen beide, es tut ihnen gut.
„Die Brücke ist gewaltig“, sagt Mira ehrfürchtig, als sie merkt, dass das Ministechen entschieden ist.
„Da werden 650 Tonnen Stahl bewegt“, erklärt Léon mit erhabener Fröhlichkeit, während Flocke der Brücke hinter her schaut.
Mit sieben Knoten segelt die Bird of Prey an den Ufern des Peenestroms entlang. Wiesen und Felder ziehen an ihnen vorbei, während die Crew die Segel den wechselnden Winden anpassen muss. Dem kurvenreichen Strom folgend, weht der Wind für sie ständig aus einer anderen Richtung. Stinger und Flocke lassen die Winschen surren und arbeiten hart am Schiff. Endlich erreichen sie den Greifswalder Bodden. An der Mündung wird der Blick auf die offene See frei. Mit Kurs auf Rügen wiegen die kurzen Wellen das Schiff in den Rhythmus der Ostsee.
„Da drüben ist Rügen“, ruft Léon mit ausgestrecktem Arm. Dann dreht er sich nach Steuerbord, ohne den Arm runterzunehmen. „Und da vorne liegt die Insel Ruden. Ich habe gelesen, dass dort nur ein einzelner Naturschützer lebt und die Vögel beim Nisten bewacht. Außer vier Spundwänden, welches sie Hafen nennen, gibt es da nichts“, sagt Léon vergnügt.
Dabei atmet er tief durch, als wenn ihm die Ostsee mehr Luft verschaffen könnte.
„Hört sich idyllisch an“, findet Mira.
„Um zu übernachten, werden wir den Yachthafen in Neuhof anlaufen“, sagt Léon schnell, um mit Mira nicht diskutieren zu müssen.
Butterweich liegt die Yacht im Ruder, während die Fußreling durch das Wasser zieht. Mit der Abendsonne bläst der Wind stetig aus einer Richtung, und Flocke und Stinger übernehmen die Feintrimmung mit ihrem Körpergewicht. Sie lassen ihre Beine über die Bordwand hängen, bilden auf der Schiffskante den Ballast in Luv, schauen auf die See hinaus und sehen, wie die Sonne im Meer versinkt.

Nach drei Stunden Fahrt kommt der Yachthafen Neuhof in Sicht. Léon lässt das Anlegemanöver vorbereiten. Fender und Festmacherleinen werden aus der Backskiste geholt, während Léon nach einer beleuchteten Box Ausschau hält. Kurz darauf liegt die Bird of Prey sicher in der Box. Mira will aus den Segelklamotten raus, duschen und essen gehen. Das Lokal ist auf dem Hafengelände schnell gefunden. Die Crew findet ein Restaurant im Schweden Stil vor. Ein brennender Kamin und die in hellem Holz gehaltenen Wände geben dem Raum eine angenehm warme Atmosphäre. Die Bedienung zeigt ihnen einen Tisch an der Fensterfront und sie genießen den freien Blick auf den beleuchteten
Yachthafen.
„Das Einzige, was jetzt noch fehlt“, sagt Stinger, „ist ein zünftiges Tauchballspiel, um die Gräten vom langen Sitzen wieder in Schwung zu bringen.“
„Rostock ist nicht weit“, klärt Flocke Stinger auf.
„Ich dachte eher daran, mit richtigen Männern zu raufen“, protzt Stinger, pumpt seinen mächtigen Bizeps auf, und Mira verdreht die Augen.
„Jungen Mannschaften solltest du eine Chance geben!“, empfiehlt Léon.
„Ist euch schon aufgefallen…? Es gibt immer mehr Spieler, aber richtig gute gibt es selten“, sagt Stinger etwas frustriert.
„Tauchball lernt man eben nicht in zwei Jahren“, mischt sich Mira ein, „dazu ist viel Ausdauer nötig und die haben nur wenige.
„So wie dein Bruder?“, beginnt Flocke zu stänkern.
„Sharki wurde im Reagenzglas gezüchtet, so viel Power bekommt man nicht vom normalen Training“, meint Stinger zu Flocke.
„Trainieren ist eben nicht trainieren. Mein Bruder arbeitet an sich wie ein Profi. Er weiß, wie man sich als Leistungssportler richtig ernährt und wie er in der Mukibude seinen Körper systematisch aufbaut“, erklärt ihnen Mira, während die Drei ihr wortlos zuhören.
„Wie schön, dass du über alles so gut Bescheid weißt. Nur warum wir hier sind, weißt du nicht!“, provoziert Flocke sie.
„Natürlich weiß ich das. Man hört euch doch durch die Bordwand reden. Abgesehen vom Unterwasser Rugby kennt ihr auf dieser Fahrt nur noch ein Thema, und das ist die Suche nach Vineta.“
„Was hast du gehört?“, fragt Stinger überrascht.
„Von euch jedenfalls nicht viel, um der Sache entscheidend näher zu kommen.
„Du weißt also schon mehr als wir?“, fordert Flocke sie raus.
„Stimmt genau!“
„Erzähl doch mal!“
„Na schön“, faucht Mira und sieht erst Léon dann Flocke giftig an.
„Im zwölften Jahrhundert lebten Heiden in der reichen Stadt. Sie beteten zu vielen Göttern, aber nicht zu dem einen. Christen waren geduldet, durften ihren Glauben aber öffentlich nicht bekennen.“
Flocke wippt mit dem Stuhl.
„Das wissen wir schon. Aber woher weiß man, dass sie reich war?“, drängt er sie. Dann redet sie weiter:
„Erstens; sie lebten vom Handel mit den fremden Völkern und das nicht schlecht. Zweitens; es gab keinen König, der die Bewohner mit Steuern und Abgaben belastete. Vineta wurde nämlich von den Ältesten regiert. Das war im Mittelalter zu dieser Zeit nicht ungewöhnlich und schaffte beim Volk die Grundlage für den Wohlstand. Drittens; der vielleicht wichtigste Grund war ihr Erbrecht. Denn das Erbe wurde nicht wie üblich auf die Kinder aufgeteilt, sondern komplett auf den Erstgeboren übertragen. Das Vermögen blieb im ganzem erhalten. Die leer ausgegangenen Kinder konnten sich nicht ausruhen und schufteten wieder für ihren Wohlstand. Und viertens; die Veneter bauten eine hohe Stadtmauer mit zwölf Wachtürmen, um die Stadt uneinnehmbar zu machen. Aber nicht nur das. Sturmglocken, groß wie Pferdekutschen, warnten die Bürger vor den angreifenden Feinden. Zu dieser Zeit konnte keine Armee Vineta einnehmen und ausrauben, selbst die räuberischen Dänen nicht.“
Mira verschränkt ihre Arme und genießt diesen Moment.
„Uff, die Bürger müssen wahrlich sehr reich gewesen sein“, stellt Stinger andächtig fest.
„Anstatt nach Vineta zu suchen, solltet ihr besser überlegen, warum gemordet wird!“, gibt sie zu denken.
Leon hebt die Hand.
„Schwer vorzustellen, dass noch irgendwo auf dem Meeresgrund Gold, Silber oder Edelsteine umher liegen. Selbst wenn man die Stadt gefunden hätte, wäre der Aufwand einfach zu groß, die Metalle aus dem Schlamm zu spülen. Das wäre eine Aufgabe für ein wissenschaftliches Bergungsteam, welches mehr Geld investiert, als es je erhalten wird. Einen Mord würde deshalb niemand begehen“, sagt Léon überzeugt.
„Sicherlich nicht“, gibt Stinger ihm recht.
„Da müsste man schon verrückt sein!“, sagt Léon und legt seine Stirn in Falten.
„Ich dachte, die Mörder sind hinter der Karte her?“, fragt Flocke verständnislos.
„Sicher, aber nicht nur. Die Experten glauben, die Mappa Ordica ist nicht nur ein Beweis, dass es Vineta gegeben hat, sondern Adam von Bremen teilt der Welt mit, wo die Stadt gelegen hat. Leider sah die Küste zu dieser Zeit völlig anders aus. Nur Geologen können die Veränderungen interpretieren. Der Professor wusste genau, dass die meisten Experten die polnische Stadt Wollin für Vineta halten, was ihn in keinster Weise störte. Hätte er die Karte den Experten zur Auswertung gegeben, wäre sie heute nicht in unseren Händen und niemand würde sich um den Standort der Stadt streiten. Merkwürdig ist, dass er selbst keine Veröffentlichung geschrieben hat, in der er etwas anderes behauptete. Ich habe das geprüft! Im Gegenteil, auch er vertrat in der Öffentlichkeit die These, dass es sich bei Wollin um Vineta handelt“, klärt Mira die Jungs auf.
„Kein normaler Historiker würde einen Fund verstecken, welcher die Existenz von Vineta beweisen könnte“, stellt Flocke empört fest.
Mira setzt sich auf die Stuhlkante und verschränkt ihre Arme auf dem Tisch.
„Die Umstände müssen also anders sein. Angenommen, das Forschungsprojekt des Professors wurde von der Familie zum Zweck der Verwirrung finanziert. Wenn der Professor in diesem Fall dann die Karte gefunden hätte, wäre das für alle eine fatale Situation. Vineta wäre greifbar gewesen. Wahrscheinlich hätte man ihm Konsequenzen angedroht, für den Fall, dass er das Geheimnis preisgeben würde.“
„Schöne Theorie. Nur eines passt da nicht zusammen und schon lange denke ich darüber nach. Wie konnte der Professor an die Karte kommen oder sie finden, wenn sie doch schon vor langer Zeit gestohlen wurde?“, fragt Léon verwirrt.
„Das kann ich dir erklären“, sagt Mira. „Ich habe heraus bekommen, dass die Bibliothek des Klosters auf Hiddensee nicht nur über das Original verfügte. Gestohlen wurde lediglich eine Kopie, und die Fachwelt glaubt, dass es dem Dieb nicht um den Wert der Karte ging, sondern nur darum, die Suche nach Vineta zu erschweren.“
„Und wie kommen die darauf?“, fragt Stinger.
„Eine Kopie zu stehlen macht in der Regel keinen Sinn. Außerdem konnten sich die Diebe nicht irren. Die Kopie war eine einfache Abschrift und für jeden an dem gewöhnlichen Papier zu erkennen“, erklärt Mira.
„Das würde passen. Der Klau um die Jahrhundertwende ist ein Beweis dafür, dass jemand schon sehr lange versucht, die Entdeckung Vinetas zu verhindern“, wirft Léon überzeugt ein.
„Wenn nur eine Kopie gestohlen wurde, dann könnte der Professor das Original tatsächlich bei seinen Grabungen in den Kellergewölben des Klosters gefunden haben“, begreift Stinger.
„Nur warum will die Familie über Generationen hinweg die Entdeckung einer versunkenen Stadt verhindern? Und wer ist überhaupt mit Familie gemeint?“, fragt Flocke verwirrt in die Runde.
„Johan von Bremen und Fritz Franke natürlich. Beide finanzierten das absurde Projekt?“, kombiniert Stinger.
„Blödsinn. Fritz Franke wollte Vineta wirklich finden, er arbeitete mit dem jungen Sander zusammen. Außerdem bringt man sich nicht um, wenn man dem Ziel ein Stück näher gekommen ist?“, gibt Mira zu denken.
„Dann der Vater und die Tochter. Als ich bei der Alten war, spürte ich, dass ihr mein Interesse nicht gefällt. Sie wollte nur abschätzen, wie weit ich mit meinen Nachforschungen war. Ihr Vorfahre Adam von Bremen ist der Schlüssel zu Vineta. Ohne ihn würde es keinen Beweis über die versunkene Stadt geben. Es ist das Erbe der Familie, was sie aus Tradition bewahren will. Fritz Franke hat nur eingeheiratet, ist nicht von blauem Blut, hat mit dem Erbe, ihren adligen Traditionen und mit dem Hüten von Geheimnissen wenig zu tun. Er kannte den Professor und seinen Sohn, hatte alle Informationen und wollte Vineta um jeden Preis finden. Da seine Frau und wahrscheinlich auch ihr Vater den Deal mit dem Professor stoppen wollten, finanzierte er selber die Forschung heimlich weiter und opferte ein Vermögen, um Vineta mit der Karte zu finden?“, spekuliert Léon.
Niemand von der Crew sagt etwas, stumm durch diese Theorie.
Nach einer Pause meint Mira:
„Das würde den Bruch in der Ehe erklären.“
„Trotzdem ist nicht klar, warum Fritz Franke die Ehe und das Vermögen der Familien aufs Spiel setzt“, meint Stinger ungläubig.
„Stimmt. Der Grund so viel zu riskieren, bleibt ein Rätsel. Ich denke, es geht da um mehr als nur um Ruinen“, sagt Léon am Ende gedankenvoll, bevor sie zurück zum Boot schlafen gehen.

Am nächsten Morgen ist es windiger als Gestern, und die schwimmenden Stege, die durch den Schwell aneinander reiben, sind unter Deck mit dumpfem Klang zu hören. Am Frühstückstisch lässt Léon die Müslidose kreisen, da fragt ihn Stinger, wo sie mit der Suche beginnen werden.
„Wir beginnen beim Yachthafen Altefähr“, antwortet Léon mit gedämpfter Stimme, so dass keiner vom Schiff nebenan mithören kann.
Dabei holt er die gekaufte Seekarte vom Kartentisch und bittet die anderen den Tisch abzuräumen. Er breitet sie aus und fährt mit dem Zeigefinger darüber.
„Hier sind wir“, fuchtelt Léon mit seinem Finger auf der Karte rum, „und gegenüber von Stralsund liegt der Yachthafen Altefähr.“
„Was ist, wenn wir da nichts finden?“, fragt Mira.
„Dann suchen wir in der Nähe bei Hiddensee“, erklärt ihr Léon.
„Auf zum Yachthafen Altefähr!“, posaunt Flocke voller Tatendrang.
Léon steht an Deck und ist froh, dass das Ablegemanöver wie von selbst geschieht. Selbst Mira packt mit an und schon kurze Zeit später ist die Bird of Prey unter Segel mit Kurs auf Stralsund. Die See ist rau. Der Wind dreht nach Westen und nimmt, wie vorhergesagt, mittags zu. Flocke bindet mit Stinger ein Reff in das Groß, um die Fläche des Segels zu verkleinern. Mit getrimmten Segeln treibt Léon das Schiff gegen Wind und Welle. Hart am Wind segelt die Bird of Prey auf der Seite, während die weitläufigen Ufer des Strelasund immer näher kommen.
„Sonne und gleichzeitig eine ordentliche Brise. Was wollen wir mehr?“, freut sich Léon, der sich mit einem Bein auf der Sitzbankkante abstützt, um die seitliche Lage des Schiffes auszugleichen.
Mit Blick auf die sanften Hügel Rügens arbeitet sich die Yacht bis zur Klappbrücke von Stralsund vor. Die Brücke ist wesentlich älter als die Brücke in Wolgast. Da der
Yachthafen Altefähr direkt dahinter liegt, lässt Léon noch vor der Brücke die Segel bergen. Mit Maschinenkraft fahren sie hindurch, und Léon steuert das Schiff im Fahrwasser auf die Hafeneinfahrt zu. Bei der Ansteuerungstonne angekommen, verringert Léon die Fahrt. Er hält sich präzise an den Kompasskurs und vergleicht die Richtung mit den Angaben auf dem GPS Plotter. Nach wenigen Minuten zeigt das Gerät die Koordinaten an, die Léon vorher auf der Karte ermittelt hat. Flocke macht den Hauptanker klar und lässt ihn mit der Ankerwinsch zu Wasser. Léon hat den Zielstandort um die dreifache Tiefe gegen den Wind überfahren. Flocke gibt das Zeichen, gleichzeitig lässt Léon die Bird of Prey durch den Wind zurücktreiben. Nervös kontrolliert Flocke die abgewickelte Länge mit den Markierungen auf der Ankerkette. Der Bruceanker greift, kurz darauf stellt Léon die Maschine ab. Ungeduldig legt Mira ihre Ausrüstung zurecht, während Léon den Danforth Anker nach achtern ausbringt. Immer wieder überprüft Léon den Standort. Schließlich ziehen Mira und Léon ihre Schnorchelausrüstung an, um nach den beiden Ankern zu tauchen. Als Léon in das Wasser springt, zieht die Kälte durch seinen Körper. Um diese Jahreszeit ist die Ostsee noch eiskalt und schon nach wenigen Metern beginnen seine Glieder zu schmerzen. Dennoch taucht Léon nur in Badehose bekleidet zum
Bruce- und Mira zum Danforth Anker. Bei Léon ist alles in Ordnung. Der Anker liegt in Zugrichtung und hat sich tief eingegraben. Mira will den Danforth Anker um circa fünf Metern in eine Mulde verlegen. Léon kommt ihr zu Hilfe und drückt den Anker mit einem Ruck in den Sand, während Flocke am Bug die Ankerleinen einstellt. Jetzt kann sich die Bird of Prey nur noch seitlich um wenige Meter bewegen.
Für einen trainierten Tauchballspieler ist eine Tiefe von vier Metern kein Problem. Wenn nur die Kälte nicht wäre. Léon empfiehlt Flocke und Stinger, sich einen Neoprenanzug anzuziehen.
Es dauert keine zehn Minuten, da sind beide im Wasser, um die Stelle zu überprüfen. Die Sicht ist mäßig, trotzdem ist der sandige Boden in Kürze abgetaucht. Flocke steigt zwischen den Luftblasen auf und lässt sich den Metalldetektor von Léon geben. Er taucht wieder ab und stöbert eine von Algen bewachsene Ankerkette auf. Léon hängt sich eine Pressluftflasche über und beteiligt sich bei der Suche. Aber auch er kann nichts Auffälliges finden und bricht das Vorhaben nach einer Stunde enttäuscht ab. In diesem Moment spielt es für Léon keine Rolle, dass es unwahrscheinlich ist, etwas zu finden. Léon spürt nur das pure Versagen, auf die falsche Sache gesetzt zu haben.
Plötzlich klingelt Léons Handy, und der Hafenmeister von Krummin ist dran.
„Hallo, Hallo“, brüllt der Hafenmeister, da er selbst nur schwer hören kann.
„Hier hat sich jemand nach eurem Boot erkundigt.“
Die Mörder schießt es Léon durch den Kopf.
„Wer denn?“, will Léon wissen.
„Sie sagten, sie seien Freunde von euch. Sie haben keinen Namen genannt. Merkwürdige Leute sind das. Jetzt glauben sie mir nicht, dass ihr losgefahren seid und schauen am Steg nach euch“, berichtet der Hafenmeister verständnislos.
„Wir sind auf dem Weg nach Bornholm“, lügt Léon geistesgegenwärtig.
„Gut, wenn sie zurückkommen, werde ich es ausrichten“, brüllt der Hafenmeister wieder.
„Vielen Dank“, sagt Léon und erinnert sich an den angeschnittenen Schlauch unter der Spüle.
„Dann noch eine gute Fahrt“, wünscht ihnen der Hafenmeister, was sich für Léon ironisch anhört, dann legt er auf.
„Ihr werdet es nicht glauben. Unsere Verfolger waren hier an Bord und sitzen uns nun dicht auf den Fersen. Sie waren es, die den Schlauch von der Spüle angeschnitten haben, sie wollten die Bird of Prey versenken, um unsere Suche zu verhindern!“, berichtet Léon.
Während sein Blut aus dem Gesicht schießt, streicht er sich mit der Hand durch die Haare.
„Die Arbeit von Stümpern, keine Ahnung von Schiffen, das Seeventil lässt sich doch schließen“, erklärt Flocke.
„Wir hätten sie im ‚Tiefersee’ erledigen sollen“, stöhnt Stinger schockiert.
Léon schaut ihn verblüfft an.
„Wenn wir Glück haben, fahren sie jetzt nach Bornholm und wir haben noch ein oder zwei Tage Zeit, die Sache zu Ende zu bringen.“

Die Bird of Prey setzt sich in Bewegung. Kurz darauf werden die Segel gehisst. Hätten sie nicht die Verfolger auf den Fersen, wäre es ein wunderschöner Segeltag. Immer wieder sticht die Sonne durch das Wolkenband und erhellt die graue See. Auf der Westseite von Rügen beginnen sich die Wellen zu brechen. So weit das Auge reicht, überziehen schneeweiße Flecken das Wasser. Auf Halbwindkurs sucht Stinger den Horizont nach Tonnen ab, die das Fahrwasser zwischen der Insel Hiddensee und der Insel Rügen markieren. Plötzlich bemerkt Flocke eine weiße Yacht auf Backbord, die sich unbemerkt in das Kielwasser der Bird of Prey geschoben hat. Unter vollen Segeln kommt die Yacht schnell näher. Dann setzt sie in Luv zum Überholen an. Mächtig schiebt sie sich an das Heck der Bird of Prey heran und droht ihr den Wind zum Segeln zu nehmen. Die weiße Yacht ist zu dicht, um nicht zu provozieren und Léon wird klar, dass er schnell handeln muss.
„Die werden uns gleich überholen!“, ruft Mira panisch zu den Männern, da sie die Verfolger auf dem weißen Schiff vermutet und jedem an Bord ist klar, dass ihr das nicht gefällt.
„Vor lauter Gequatsche haben wir das Trimmen vergessen“, rechtfertigt Stinger die Situation und Flocke sieht man es an, dass er es hasst, von einer Frau zu hören, dass sie verlieren werden.
„Sind das die Typen, von denen der Hafenmeister gesprochen hat?“, fragt Mira aufgeregt.
„Keine Ahnung! Wir sollten es nicht darauf anlegen, es rauszubekommen“, antwortet Léon.
„Zwei Schiffe, ein Rennen!“, ruft Flocke und macht per Zuruf den anderen klar, worum es jetzt geht.
Léon und Stinger haben sofort verstanden. Ohne Worte wird Mira das Ruder in die Hand gedrückt. Léon lässt den Kiel nach unten fahren, geht dann in die Hocke, um den Hohlepunkt vom Traveler nach Steuerbord zu versetzen. Dann holt er die Großschot dichter und öffnet sie wieder, bis sich im Großsegel ein kleiner Bauch am Mast bildet. Inzwischen macht sich Stinger am Baumniederholer und an den Liekleinen zu schaffen. Sofort trimmt Léon die Genoa und Flocke das Achterstag. Der Wasserwirbel am Heck wird stärker. Die Logge reagiert sofort und zeigt zwei Knoten mehr Geschwindigkeit an. Das Vorpreschen der fremden Yacht wird gebremst. Auf gleicher Höhe jagen die Boote an der Windkante durch die Wellen. Gischt fliegt hoch und weht über das Deck. Plötzlich werden beide Schiffe von einer Böe erfasst. Während die fremde Yacht übertakelt ist und die Windenergie nur in Krängung umsetzt, schießt die Bird of Prey vor und steigert ihren Speed. Zum Ärger der fremden Crew und zur Freude der Gefährten, fällt die weiße Yacht geschlagen zurück.

Zwei Stunden später im Yachthafen Neuendorf auf Hiddensee ist es für Léon wie ein Traum. Keine Autos, keine Abgase, kein Motorenlärm. Auf der Insel ist man zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit der Pferdekutsche unterwegs, mit der sich Mira und Léon auch gleich zu der Bibliothek bei den Klosterruinen bringen lassen. Das Gebäude ist mit Reet eingedeckt und unterscheidet sich von den anderen Gebäuden lediglich durch eine bronzene Skulptur einer offenen Seemannskiste mit Büchern, die vor dem Eingang steht. Drinnen werden sie an einem kleinen Schreibtisch von einer Frau mit blonden Zöpfen begrüßt. Die kleinen Räume erinnern mehr an ein Museum als an eine Bibliothek. In Vitrinen sind Teile von versunkenen Schiffen ausgestellt, und an den Wänden hängen Ölgemälde, die von dem Leben der Fischer und von Stürmen erzählen. Schiffe in Flaschen sind zu sehen und alte Seekarten, die zeigen, wie sich Rügen und Hiddensee im Laufe der letzten Hundert Jahre verändert haben. Ein Stock höher, im Dachgeschoß werden die Bücher aufbewahrt. Einzelne Seiten, die mühevoll restauriert wurden, werden zwischen den Bücherregalen in beleuchteten Glasrahmen aufbewahrt. Mira und Léon staunen, es gibt auch eine Multimediavorführung. In einer Plastikbox neben dem Bildschirm werden rotgrüne Shuttlebrillen für die Vorführung mit der Aufschrift 3D-View bereitgestellt. Léon und Mira greifen hinein und setzen jeweils eine auf. Mira tippt mit dem Finger auf den Bildschirm. Der Menüpunkt ‚Vineta Sage’ wird mit einem leuchtenden Balken unterlegt. Die Countdowngrafik wird eingeblendet. Bei Null angekommen startet es mit einem Vorfilm:

- Film ab -
In der Tiefe ist ein Heilbutt zu sehen, der aufgeschreckt im Bogen angeschwommen kommt. Miras Blick saugt sich in die Szene. Der Butt wird größer und kommt ihr entgegen. Zum Erstaunen schwimmt der Plattfisch über die Bildschirmebene hinaus. Erst durch den Raum, dann auf die Betrachter zu, schwimmt zurück, kommt wieder, um sich dann ganz ruhig auf einer anderen Stelle niederzulassen. In Zeitlupe zoomt sich die Kamera an den schmackhaften Fisch heran. Plötzlich sind Glocken zu hören, die aus der Ferne schnell näher kommen.
„Die Sturmglocken von Vineta“, flüstert Mira andächtig.
Die Bildschirmszene blendet in eine bizarre Küstenlandschaft über. Ein Reiter trabt in einem edlen Gewand auf einem weißen Ross den Strand entlang. Er stoppt, nimmt sein mit Federn geschmücktes Barett vom Kopf, bückt sich zu Boden und sucht nach Spuren im Sand. Der Schimmel tänzelt hin und her, schwenkt seinen Kopf in den Raum. Der Blick des Reiters verweilt auf der ruhigen See, als wenn er dort etwas entdecken könnte. Der Lärm der Glocken wird lauter. Plötzlich steigt ein gewaltiges Stadttor mit Wachturm aus der See empor. Verängstigt geht das Pferd rückwärts, dreht, steigt hoch und blickt auf die vom Wasser abtropfende Mauer. Ein Poltern, ein Klopfen ist zu hören. Schweres Holz beginnt zu knarren. Wasser fließt in Strömen, dann fällt helles Licht durch das Tor der Zugbrücke, als diese sich quietschend senkt. Männer, bewaffnet mit langen Lanzen, treten auf die Brücke heraus und winken den Edelmann hinein. Doch dieser wartet. Er betrachtet die mit Gold verzierten Säulen der sich aneinander reihenden Häuser. Männer mit Hellebarden laufen geschäftig umher. Mit ihnen laufen aufgeputzte Frauen in altertümlichen Gewändern auf den mit Alabaster gepflasterten Wegen. Auf dem Marktplatz werden Früchte und Honigwein angepriesen. Vor den Bernsteinbuden stehen Männer in vollem Harnisch und bewachen den auf Holztischen liegenden Schmuck aus Gold und Silber. Der Reiter steigt ab und führt seinen Schimmel an den Zügeln hinein. Etwas scheint nicht zu stimmen. Die Glocken verstummen. Dann ist es plötzlich ganz still. Er geht inmitten der Menschen auf die Verkaufsstände des Marktplatzes zu. Mira und Léon hören die Schritte des Reiters und das nachhallende Klappern der Hufe des Pferdes. Sonst hören sie nichts. Ein Schemel kippt lautlos zu Boden. Ein Marktschreier bietet seine Waren feil, doch auch er ist nicht zu hören. Ein Kaufmann spricht den verwirrten Edelmann an. Geisterwelt. Der Ritter sieht, dass sich die Lippen bewegen, als dieser seine Waren vor ihm ausbreitet. Eifrig zeigt der Händler auf ein kostbares Gewand aus Seide. Der Reiter greift zu und will es mitnehmen. Der Händler hält die ausgestreckte Hand fest. Aus einem mit Brokat ausgeschlagenem Kästchen holt er erst einen kleinen Bernstein, dann ein bemaltes Stück Leinenpapier heraus. Zeigt darauf und hält die leere Hand ausgestreckt dahin. Doch der Ritter schüttelt nur den Kopf, lässt den Stoff los und lehnt ab. Immer mehr Händler kommen, um ihre kostbaren Waren dem Edelmann hoffnungsvoll anzubieten, doch dieser steigt ängstlich auf sein Pferd und flieht aus der Stadt. Kaum ist er vor dem Tor, da versinkt die Stadt wieder in den Fluten. Sie taucht in die Tiefe und verschwindet im Grund der See. Nur noch einzelne Luftblasen erinnern an das Schauspiel von eben. Der Heilbutt kommt zu seiner Liegestelle zurück, an der einst das Tor stand. Oben, am Strand ist nichts mehr von der Stadt zu sehen. Da bemerkt der Reiter am Wegesrand einen Wandergesellen.
„Hast du die Stadt gesehen?“, fragt der Ritter den staunenden Wanderer.
„Nein, habe ich nicht.“
„Sie war eben noch hier.“
„Dann hättest du sie auch erlösen können.“
„Wie?“
„Mit einem Geldstück. Hättest du mit einem Taler die dir angebotene Ware bezahlt, dann wäre Vineta endlich erlöst und die ganze Stadt an der Oberfläche geblieben.“
Traurig und mit schleifenden Gedanken wendet der
Edelmann auf der Stelle sein Pferd. Dann schaut er ein letztes Mal zurück, gibt dem Pferd die Sporen und verschwindet im Galopp am Horizont.
Mira sieht Léon wortlos an und tippt mit dem Finger auf den nächsten Menüpunkt ‚Überlieferte Schriften’. Wieder wird der mit einem leuchtenden Balken unterlegt. Der Bildschirm ändert sich nicht, nur eine Computerstimme ist zu hören. Beide legen die an Kabeln hängenden Brillen zur Seite. Die Stimme erzählt von vielen Orten, an denen Vineta vermutet wird. Von Anhaltspunkten ist im Vortrag die Rede. Dennoch wurde die Stadt zu keiner Zeit gefunden. Wenn Forscher eine Spur verfolgten, konnten sie den angenommenen Ort nicht oder nur teilweise mit den überlieferten Schriften zusammen bringen. Denn Vineta, so steht es geschrieben, soll von drei Meeren umgeben gewesen sein.
„Es heißt“, sagt die Computerstimme zum Abschluss, „Neptun kommt aus drei Richtungen, jedes mal auf eine andere Art. Einmal in tiefgrün, das andere Mal in weißlicher Pracht, dann wogt es ununterbrochen, wild bewegt von Stürmen.“

Leon blinzelt. Dann nimmt er Miras Hand.
„Kein Wunder, dass niemand Vineta findet. Eine Stadt an drei Meeren, die kann und konnte es nie geben.“
„Wer erfindet eine Ortsbeschreibung, die nicht möglich ist? Das macht doch keinen Sinn!“
„Hm... Vielleicht muss man es anderes interpretieren.“
Mira will etwas sagen, da werden sie von einem aufdringlichem Räuspern gestört.
„Entschuldigen sie bitte. Wir schließen in einer Minute“, informiert die Bibliothekarin die beiden.
Léon schaut auf seine Taucheruhr.
„Lass uns spazieren gehen!“
Mira schlendert zum Ausgang, Léon folgt ihr. Draußen, stehen die umliegenden Bauernhäuser schon im roten Licht. Sie gehen zum Deich und kommen an einer Kuhweide vorbei. Von dort führt ein Fußweg durch einen Wald, bergauf zum höchsten Punkt der Insel. Am Leuchtturm angekommen bleibt Mira stehen. Sie blickt über die weiten Boddengewässer. Sanft schmiegt sich das Wasser an die Küstenlandschaft, zwischen den beiden Inseln hindurch. Das Wasser in den flacheren Zonen ist smaragdgrün und wechselt mit zunehmender Tiefe in ein tiefes Blau. Verzaubert genießen sie die schöne Landschaft. Léon zieht Mira am Arm und drängt zum Gehen. Während sie auf die Nordseite der Insel laufen, geht die Sonne am Horizont unter. Der Wind bläst stark und er rauscht durch die Blätter der Bäume. Während der Dämmerung verraten immer mehr Schiffe durch ihre Lichter ihre Position. In einer dichten Hecke finden sie eine Öffnung, durch die sie schlüpfen. Es duftet nach wilden Kräutern. Steil fällt der Hang zum Wasser ab und als die Sonne sich hinter der Erde versteckt, beleuchtet nur noch der Mond die tiefschwarze See und bringt die Wellenkämme märchenhaft zum Glitzern. Der imposante Blick lässt sie dort eine Zeitlang verweilen. Erst bei Nacht steigen die zwei die Steilwand hinunter und kehren zum Schiff zurück.
An Bord öffnet Mira ihr Notebook, da wird Léon vom Klingelton seines Handys aufgeschreckt.
„Was macht die Seefahrt?“, begrüßt Flosse Léon.
„Prima, aber das ist sicherlich nicht der Grund deines Anrufes“, weiß Léon, während er den konzentrierten Blick von Mira beobachtet.
„Nein, sicherlich nicht. Ich konnte dich nicht erreichen, da bin ich zum Filmgelände gefahren. Ich habe mir die
Überwachungsvideos zum Zeitpunkt des Einbruchs angesehen.“
„Alle?“
„Nicht alle, nur auf denen parkende Autos zu sehen sind. Jedes Kennzeichen habe ich mir notiert und durch den Computer gejagt. Es hat einige Mühe gemacht, aber es hat sich gelohnt.“
„Was hast du entdeckt?“
„In der Parkgarage sind mir zwei schräge Typen aufgefallen. Sie stiegen in einen silbergrauen A6. Der Wagen ist von einer belgischen Briefkastenfirma bei einer Autovermietung gemietet worden. Mit dem Fahndungscomputer konnte ich die Typen anhand der Gesichter identifizieren. Die Jungs sind keine Unbekannten.
„Lass mich raten, der eine trägt eine Beinprothese.“
„Richtig.“
„Der Hafenmeister rief mich gestern an. Er teilte mir mit, dass zwei Männer nach uns gefragt haben.“
„Dann sind sie euch auf den Versen. Der eine ist Belgier und gegen ihn wurde schon zweimal wegen Totschlag ermittelt. Der andere kommt aus Frankreich und hat schon senkrechtes Eisen vor seinen Fenstern genossen.“
„Gibt es irgendeine Verbindung zu der Familie von Bremen beziehungsweise Franke?“
„Keine Ahnung! Wie kommst du darauf?“
Léon erzählt ihm, was Mira herausbekommen hat und er vermutet: …
„… OK. Ich prüfe das.“
„Was passiert jetzt?“, fragt Léon.
„Die Fahndung läuft. Bis jetzt wussten wir nicht, wo wir suchen sollten. Bis wir die Kerle haben, solltet ihr vorsichtig sein!“
„Mach dir um uns keine Sorgen! Wenn es zu heiß wird, verziehen wir uns auf das Wasser, da können sie uns nicht folgen“, beruhigt Léon Flosse zum Abschied und schaltet sein Handy aus.
„Hast du mitgehört?“
„Jedes Wort, man kann Flosse beim Telefonieren nicht überhören.“
„Die haben es auf uns abgesehen“, sagt Léon, und für eine Weile bleibt er stumm sitzen.
„An was denkst du gerade?“, fragt sie ihn.
„Über die drei Meere, die Vineta umspült haben.“
Mira streift sich einen Pulli über.
„Vor einigen Tagen habe ich schon mal etwas darüber gelesen. Diese Beschreibung der Zeitzeugen konnte selbst der Professor nie aus der Welt schaffen.“
„Aber, wie kann Neptun aus drei Richtungen kommen? Selbst wenn Vineta auf einer kleinen Insel gelegen hat, würde sie nicht an drei Meeren liegen.“
„Es müssen vielleicht auch nicht alles Meere gewesen sein, denn es ist von Neptun die Rede. Es heißt ja auch: Neptun zeigt sich auf unterschiedliche Weise. Neptun steht vielleicht auch einfach nur für Wasser oder einen See. Und Seewasser ist meistens grün. Kannst du dich noch an die Aussicht vom Leuchtturm erinnern?“, fragt Mira die Antwort schon wissend.
„Ja, das kann ich, aber worauf willst du hinaus?“
„Gestern waren wir von den Farben des Meeres beeindruckt. Stell dir diese Gegend vor 850 Jahren vor!“
Léon blickt auf den Boden.
„Das habe ich schon oft.“
„Ich auch!“ Sie dreht Léons Gesicht in Richtung Bildschirm. „Ich habe die von dir neu gekaufte Seekarte mit meinem Handyscanner eingescannt und mit der Mappa Ordica am Computer verschmolzen.“
„Mit welchem Ergebnis?“ will Léon wissen.
„Es ist schwer zu erkennen, weil alles verzerrt ist. Aber, wenn ich die Küstenlinie von Hiddensee und Rügen verbreitere, indem ich einen Teil des Meeres trockenlege“, dabei lässt Mira die Seekarte als Layer am Computer transparenter erscheinen, „erhalte ich eine schmale Durchfahrt zwischen Rügen und Hiddensee.
„Wow!“, begreift Léon. „Die Durchfahrt wäre dann so schmal, dass man eine Holzbrücke darüber hätte bauen können.“
„Genau die, die auf der Karte schon eingezeichnet ist. Eine Klappbrücke mitten in einer Stadt, um den Handel zu kontrollieren. Wenn du dir so die Mappa Ordica anschaust, dann ist der nördliche Landschaftszipfel nichts anderes als Hiddensee und Rügen zusammen. Und anhand den Tiefenangaben kannst du sehen, dass sich in der Mitte, nicht wie angenommen, eine Anhebung, sondern eine tiefer gelegene
Ebene oder ein riesiger See befand, welcher heute die offenen Boddengewässer bildet.“
Léon sieht sie begeistert an. Das Display scheint ihre Freude darüber noch heller werden zu lassen.
„Nehmen wir einmal an“, spekuliert Léon, „die Untiefe Bessinische Schar war damals Land und die Barhöfter Rinne war geschlossen, dann ist anzunehmen, dass der Zugang bei der Bessinische Schar ein sehr bedeutender Schifffahrtsweg war. Von einer Brücke aus gesehen, würde demnach nördlich vom Vitter Bodden die wild bewegte Ostsee liegen. Das Wasser des Wieker Bodden im Südosten war durch den hellen Sandboden noch weiß. Und der Vitter Bodden im Südwesten war damals ein Süßwassersee, welcher durch die Algenblüte im Sommer tiefgrün aussah.“
„Das heißt, dass die Karte für die damalige Zeit doch recht genau war.“
„Klar, das war nicht schwer. Vom Leuchtturm aus konnte Adam von Bremen die Landschaft aus der Vogelperspektive zeichnen.“
„Nein!“, korrigiert Mira, „den gab es damals noch nicht. In den alten Schriften wird von einer Burg berichtet, die Vineta vor Angreifern aus Dänemark verteidigen sollte.“
„Er stand auf der Jómsburg, ein Vorposten auf Hiddensee“, sagt Léon andächtig und bekommt ein Gänsehaut.
„Ah, und die Verzerrungen kamen durch die schräge Ansicht, die er vom Wachturm auf die größte Handelsstadt Europas hatte“, erklärt sich Mira.
„Und die Verbindung zum Erzbischof von Hamburg bestand durch die Mönche, die neben der Burg in einem Kloster lebten. Der Ort Am Kloster ist heute noch danach benannt“, begreift Léon.
„Sicherlich halfen sie dem Domlehrer bei seiner Chronik für den Erzbischof, und dadurch konnte dieses für die damalige Zeit aufwendige Projekt gelingen“, resümiert Mira und will den Laptop ausschalten.
„Warte!“
Léon stoppt ihre Hand in der Bewegung.
„Demzufolge liegt Vineta östlich der Sandbank Bessinische Schaar, was Adam von Bremen auf seiner Karte als die Stadt Jumme und der Professor als Standpunkt Zwei bezeichnete. Schaprode ist der richtige Ausgangshafen“, kombiniert Léon und zeigt mit dem Finger fasziniert auf die Stelle am Bildschirm.

Kapitel 15: Das Erdloch