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Kapitel 15

Das Erdloch


Am nächsten Morgen liest Léon in seiner Kajüte die Mail von Flosse.

„Hallo Léon,
es gibt Neuigkeiten! Ich habe mir die Akte über den Autounfall von Fritz Franke kommen lassen. Im Bericht heißt es, dass die Unfallursache zu 95% auf das Versagen der Bremsen zurückzuführen ist. Gutachter fanden heraus, dass sich Wasser in der Bremsflüssigkeit befand, was zum Totalausfall des Bremssystems geführt hat.“

Léon überlegt:
Als gelernter Kraftfahrzeugmechaniker weiß Léon, dass im Gegensatz zur der öligen Bremsflüssigkeit Wasser bei 98° Celsius zu kochen beginnt. Bremsen ist nichts anderes als eine negative Beschleunigung, und dabei entsteht enorme Energie in Form von Hitze. Die Scheiben können bei Bergabfahrten glühen und das System erhitzen. Dabei bildet sich in den Leitungen Wasserdampf. Jeder Techniker weiß, dass sich Gase komprimieren lassen. Der Dampf wird wie in einer Luftpumpe zusammengedrückt, aber der Druck reicht nicht aus, um die Bremsbacken auf die Bremsscheibe zu pressen. Für den Autofahrer ein schrecklicher Moment, denn das Bremspedal lässt sich mühelos bis auf das Bodenblech durchtreten, ohne dass eine Bremswirkung erreicht wird.

Léon liest weiter:
„Laut Bericht wurde der Wagen, ein roter BMW 528i, regelmäßig in der Fachwerkstatt gewartet. Der letzte Wechsel der Bremsflüssigkeit fand eineinhalb Jahre vor dem Unfall statt. Bremsflüssigkeit hat die Eigenschaft aus der Luft Wasser zu ziehen. Kein Fachmann konnte sich erklären, wie sich soviel Wasser in so kurzer Zeit im Bremssystem bilden konnte. An einen Mord hatte niemand gedacht. Es gab kein Motiv. Niemand profitierte von seinem Tod. Man glaubte einfach, die Werkstatt hat den Wechsel berechnet, aber nicht durchgeführt. In einem langen Gerichtsverfahren konnte man der Werkstatt die Schlamperei nicht nachweisen. Die Versicherung der Werkstatt gewann den Prozess und man legte den Fall zu den Akten. Jetzt, da Mord in Frage kommt, habe ich mich bei der Werkstatt erkundigt. Wenn man Zugang zum Motorraum des Fahrzeuges hat, ist es leicht (z.B. mit einer einfachen Spritze) Wasser in den Ausgleichbehälter der Bremsanlage zu bringen. Ich stellte mir die Frage, ob Gerda Franke das wusste. Daraufhin habe ich mich mit Salzer unterhalten. Er bestätigte mir, dass er von ihr selbst erfahren hat, dass sie in jungen Jahren eine Ausbildung auf der Werft gemacht hatte und sich mit hydraulischen Systemen gut auskannte. Gerda Franke hatte genug Wissen die Bremsen zu manipulieren, auch hatte sie einen Schlüssel zum Wagen. Mira hat womöglich Recht. Sie könnte ihren Ehemann getötet haben, oder nur den Schlüssel mit der Idee geliefert haben. Für die Staatanwaltschaft sind das nur Indizien aber keine Beweise, es reicht jedoch aus für eine Überwachung, da der Fall von uns wieder aufgenommen wurde.
Gruß
Klaus F.

Aufgeregt erzählt Léon Mira, Stinger und Flocke, was er aus der Mail erfahren hat.
„Schönes Ding, eine Verrückte ist mit ihren Gehilfen hinter uns her“, begreift Mira. Sie hat es geahnt, aber nun ist es gewiss.
„Wir müssen hier weg, die Sache wird zu gefährlich!“, fuchtelt Flocke wild mit den Händen vor Stingers Gesicht herum.
Wie einen vorbeisausenden Ball schnappt Stinger die Hand und hält sie fest.
„Ruhig bleiben! Du hast ja recht. Durchdrehen hilft uns aber wenig.
Von Land aus ist die Bird of Prey gut zu sehen und aus diesem Grund schlägt Stinger vor, außer Sichtweite zu segeln.
Kurz darauf legt die Bird of Prey Richtung Norden ab. Mira steht auf dem Vorschiff, und ohne große Worte segeln sie mit Westwind an der Nordspitze von Rügen vorbei. Die Wellen schieben das Schiff von achtern, was es zum Taumeln bringt. Nach zwei Stunden erreichen sie Cap Arkona. Ein neuer Kurs nach Südost wird gesetzt.
Als die Sendemasten von Lohme zu sehen sind, übergibt Léon Mira das Ruder. Mit einem Kurs von 140° hält sie auf die Nordküste von Rügen zu. Erst am späten Nachmittag kommt die Hafeneinfahrt von Lohme in Sicht. Stinger holt die Segel ein. Vor den Basaltblöcken der Hafenmole baut sich eine Dünung auf. Die Yacht schaukelt so sehr, dass in der Kombüse das Geschirr in den Schränken klappert. Mit Volldampf surft das Boot auf einer Welle durch die schmale Hafeneinfahrt. Sie wird schnell festgemacht und kurz darauf steigen die Vier die vielen Holzstufen zum Terrassencafé hoch. Von dort oben ist auf der See kein Schiff zu sehen, nur zwei einheimische Gäste sitzen am Ende der Holzterrasse und warten auf den Sonnenuntergang.
„Das Timing könnte nicht besser sein. Im Gegensatz zu der gestrigen Aussicht wird einem hier zur Dämmerung noch Essen und Trinken serviert“, sagt Stinger und reibt sich dabei hungrig den Bauch.
Der Horizont klart auf und sie erleben ein beeindruckendes Lichtspektakel. In dem Moment, als die Sonne den Horizont berührt und sich in einen roten Feuerball verwandelt, werden die Wolken von der Unterseite angestrahlt. Wie Lichtschwerter stoßen Sonnenstrahlen von unten durch die Lücken der Wolkendecke. Dazu wird der Wasserdunst des Himmels in alle Farben des rötlichen Lichtspektrums getaucht. Léon stützt sich mit den Händen auf das Geländer und schaut auf die See hinausschaut. Mira sieht es ihm an, dass für ihn die Natur der größte Bühnenbildner ist.

Während sie am Ecktisch Platz nehmen, kommt die Bedienung an ihren Tisch, um die Bestellung aufzunehmen. Alle wollen Labskaus mit einem Weizenbier, nur Mira bestellt ein Wasser zum lokalen Essen.
„Wann fahren wir zur Sandbank?“ fordert Flocke eine Entscheidung.
Besorgt schaut Léon zu Flocke.
„Es ist gefährlich, dort vor Anker zu gehen. Zu leicht kann man uns entdecken!“
„Wir müssen früh dort sein, wenn andere noch schlafen“, überlegt Stinger.
„Wir machen es so schnell, dass niemand reagieren kann“, schlägt Mira vor, während die Getränke und das gut riechende Essen gebracht werden.
Da alle mächtigen Hunger haben, starren sie auf die Teller. Mira ist die Erste, die ihr Gesicht wieder aus dem Essen nimmt. Mit derselben Kopfbewegung schaut sie besorgt den Hang hinauf. Dann kann sie ihren Blick nicht mehr abwenden. Sie sieht zwei Männer, von denen der eine das rechte Bein nach sich zieht.
„Dreht euch jetzt nicht um!“, bestimmt Mira mit ängstlichem Blick.
„Lange mussten wir auf Humpelfix und seinem Kollegen nicht warten“, nuschelt Flocke, der den Mund voller Fischbrei hat. Er ist überrascht, weil er hier nicht mit ihnen gerechnet hat.
Stinger springt vom Stuhl.
„Umso besser, dann regeln wir das gleich hier!“, und sieht dabei Léon kampfeslustig an.
Léon nimmt den Kopf hoch, hält dem Blick stand.
„Das ist die Gelegenheit.“
Stinger schiebt leise seinen Stuhl zurück, doch Léon hält ihn fest.
„Nicht so, wir machen einen Nachttörn!“
„Im Dunkeln kann man uns am schlechtesten folgen!“, begreift Flocke, der trotz der Verfolger seinen Teller leergefegt hat.
„Macht das Schiff zum Ablegen bereit! Stinger und ich kommen gleich nach!“, befiehlt Léon und sieht dabei Mira und Flocke an.
Stinger setzt sich wieder.
„Ganz schön hartnäckig die Typen. Die scheinen von unserer letzten Begegnung noch nicht genug zu haben. Warum noch warten, wir sollten sie uns gleich vornehmen!“
„Nicht hier! Ohne Polizei zu gefährlich, die Typen sind bewaffnet und eiskalte Mörder. Jetzt wissen wir, wo sie sind. Wir können uns jetzt den nötigen Vorsprung holen und die Sache endgültig zu Ende bringen!“
Léon sieht Stinger an und er weiß, dass er recht hat.
„Lass uns zum Schiff gehen!“, schlägt Stinger gereizt vor, steht auf und legt zwei Geldscheine für das Essen auf den Tisch.
Unbemerkt erreichen sie die unteren Stufen. Unten angekommen laufen sie über den Steg, beschleunigen ihre Schritte und klettern mit einem großen Schritt auf den Bug der Bird of Prey. Geschwind macht Flocke die Vorleine los. Sofort treibt das Schiff durch den Wind seitlich weg. Léon startet die Maschine. Der Diesel rumpelt. Das Nageln des Motors weckt die Neugier ihrer Verfolger. Der Glatzkopf schaut am Steg entlang und entdeckt den aufsteigenden Qualm am Heckausgang. Léon legt den Rückwärtsgang ein. Zügig bewegt sich die Yacht auf die hinteren Dalben zu, da springt der Belgier die Stufen der Holztreppe runter und rennt auf sie zu. Zum Ärger der Freunde wird der Bug durch den Wind quer auf den Dalben gedrückt.
„Mist, ohne Führungsleine kommen wir nicht raus“, ruft Léon leise.
Hektisch versuchen Mira und Flocke den Bug mit Abstos-sen auszurichten. Gleichzeitig kommt der Glatzkopf über den Steg immer näher. Léon gibt noch mehr Gas, um die Bird of Prey durch die beiden Dalben zu pressen. Schließlich zieht sich das Schiff wieder gerade und kommt frei. Nur knapp verfehlt der Belgier das Boot und bleibt fluchend auf dem Steg stehen. Der andere fackelt nicht lange und humpelt in Richtung Hafenmole, um ihnen den Weg auf der anderen Seite abzuschneiden.
„Die wollen was von uns“, scherzt Flocke, im sicheren Glauben zu entkommen.
„Pech gehabt. Jetzt müssen sie uns hinterher schwimmen!“, freut sich Mira erleichtert.
„Sie werden sich ein Motorboot besorgen!“, gibt Léon zu denken.
Tatsächlich, der Belgier dreht um und geht in Richtung des Hafenmeisters, der mit erhobenen Armen aufgeregt aus seinem Büro gelaufen kommt.
„Ich sehe kein Boot, das für sie in Frage kommen könnte“, stellt Léon mit ruhiger Stimme fest.
„Es sei denn, sie schmeißen den Eigner der Motoryacht über Bord und kapern sein Schiff“, erwidert Stinger sarkastisch, dabei zeigt er mit dem Finger auf die andere Seite des Steges.
Mira beobachtet, wie der Franzose über den kurzen Weg auf die Hafenausfahrt zuhumpelt und die Bird of Prey nicht aus dem Auge lässt.
„Sie wollen mitbekommen, welche Richtung wir nehmen.“
„Ich hoffe, nur das!“, sagt Léon besorgt, „tun wir so, als ob wir nach Nordosten in Richtung Bornholm segeln. Wir halten Kurs, bis wir das Cafe nicht mehr sehen können. Dann gehen wir auf Westkurs!“
Er steuert die Yacht parallel zur Hafenmole. Schließlich reißt Léon das Ruder herum, hält auf die Hafeneinfahrt zu, wo sie schon empfangen werden. Vollgas denkt Léon und legt den Hebel auf den Tisch. Der Motor poltert los, spuckt schwarzen Qualm und am Speedmesser erkennen sie, wie die Yacht im Hafenbecken beschleunigt. Stinger bemerkt, wie Humpelfix eine Pistole aus seinem Brusthalfter zieht und den Arm zum Zielen durchstreckt.

„Alle runter!“

In dem Moment, als der Franzose die Pistole anlegt und schießt, gehen alle in die Knie. Die Schüsse durchbrechen das Donnergeräusch der Brandung. Reflexartig duckt sich Léon im Cockpit. Da macht es auch schon flopp…, flopp…, und die Kugeln schlagen schwarze Löcher in das weiße Deck. Mit einem Tastendruck schaltet Léon den Autopiloten ein und lässt so das Schiff blind gegen die Brandung anlaufen.
„Eine ganz neue Art, einen Hafen zu verlassen!“, ruft Flocke aus dem Niedergang, der seine Angst im Scherz ersticken will.
„Ein Standardmanöver wird es sicherlich nicht!“, geht Léon darauf ein, hält die Nase aber noch unten.
Als erster taucht Stinger wieder auf. Er nimmt das Marineglas und schaut vorsichtig an der Steuerbordwinsch vorbei.
„Humpelfix sieht nicht gerade glücklich aus“, teilt Stinger den anderen mit. „Er fuchtelt mit den Armen umher und gibt dem anderen wilde Zeichen.“
„Mit einem Holzbein sollte man nicht hinter netten Leuten herrennen!“, scherzt Stinger, sich endlich in Sicherheit fühlend.
Während sich die Yacht zügig vom Land entfernt, bricht die Dunkelheit herein. Léon ändert den Kurs auf Cap Arkona. Da schlägt Flocke vor, die Positionslichter auszulassen. Stinger legt wie gewohnt seine Automatikweste für die Nacht an.
„Wo wollen wir den ersten Tauchversuch wagen?“
„Dort, wo uns die Koppelkurse hinführen und einst die engste Stelle war. Ankern werden wir bei Dranske! Bei ablandigem Ostwind dürfte das für diese Nacht gehen.“
„Also Ankern, keine Marina, das ist gut, niemand der uns sehen kann“, stimmt Flocke zu, der das Gespräch auf dem Vorschiff mitbekommen hat.

In der Nacht kontrolliert Léon die Koppelkurse auf der Seekarte. Mit dem Stechzirkel trägt er ausgehend vom
Yachthafen Schaprode die Kurse auf der Karte ein. Den GPS Plotter programmiert er mit dem gefundenen Standort, und so können sie das Ende der Koppelstrecke direkt von ihrer Position aus anfahren.

Beim Morgengrauen lässt Stinger den Anker auf den Grund sinken. Mira und Flocke schlafen noch. Wieder fehlt die Sonne. Dunkle Regenwolken verklären den Himmel, nur der Wind braust nicht so stark wie gestern.
„Das Wetter macht nicht gerade Freude“, flüstert Léon, müde von der schlaflosen Nacht.
Stinger kommt nach Achtern und schnappt sich das Marineglas. Er sucht die Küste nach Auffälligkeiten ab.
„Wir sollte es an einem anderen Tag versuchen“, schlägt Stinger vor.
Mira kommt verschlafen den Niedergang hoch, steigt wieder runter und legt Stinger und Léon ihre Ausrüstung hin.
„Seid ihr fertig!“, schon wissen alle, dass ein verschieben nicht in Frage kommt. „Da müssen wir durch. Wir sind nicht zum Vergnügen hier. Wenn wir nicht ein paar Jungs auf den Fersen hätten, würde ich die Aktion auch lieber auf einen anderen Tag verschieben.“
Ihrem Befehl folgend, legen Léon und Stinger die Schnorchelausrüstung an. Eile ist angesagt. Nachdem die Badeleiter im Wasser ist, springt Mira hinein und überprüft die richtige Lage des Ankers. Léon schaut Stinger an. Er weiß, dass die Tiefe nicht das Problem ist. Die Kälte, seine Müdigkeit und die kurzen Kabbelwellen sind es, die ihm zu schaffen machen. Unter diesen Bedingungen sind acht Meter auch für Léon eine Herausforderung. Selbst Stinger zögert, bis er in das graue Wasser hüpft. Dann ist Léon bereit. Er hat die Tauchflasche angelegt und springt mit einem halben Salto vorwärts ins Wasser. Er lässt sich auf den Grund sacken und versucht den Kälteschock zu ignorieren. Auf dem Grund geben sich beide ein Zeichen. Quadratmeterweise suchen sie den Boden nach einem Beweis von Vineta ab. Ein Heilbutt liegt auf dem Sand und wird von Léon aufgescheucht, aber das ist auch schon alles, was beide hier vorfinden. Léon taucht auf. Frustriert wuchtet er sich mit den Armen auf die Badeplattform. Dann winkt er Mira herbei. Weil er es nicht wagt, es laut auszusprechen, flüstert er ihr ins Ohr.
„Hol mir bitte ein Centstück!“, flüstert Léon mit peinlichem Blick und legt den Kopf schief.
Mira schmunzelt. Sie schaut ihn fragend an, verkneift sich aber den Kommentar. Sie geht unter Deck, als sie wiederkommt, gibt sie ihm mit verschwörerischem Blick wortlos das Geldstück. Da setzt plötzlich in der Ferne der Klang einer Kirchenglocke ein. Er dreht sich um und versucht das Läuten zu lokalisieren.
„Was für einen Tag haben wir heute?“
„Sonntag, nein Ostersonntag!“, verbessert sie sich.
Verschworen sieht Léon Mira an. Dann hüpft er erneut in die See. Unter Wasser wird das Läuten dumpfer, aber er kann nicht sagen, ob es aus der Ferne an Land oder aus der Tiefe zu ihm hinauf klingt. Aufgeregt schaut Mira zu, wie er in die Tiefe gleitet. Am Grund angekommen, klart auf einmal das Wasser auf. Sonnenstrahlen schieben sich über den Grund. Eine Kontur ist zu erkennen, die sich als Schatten im Sand abbilden. Seine Augen folgen dem Bogen und können es nicht glauben. So weit das Auge reicht, bilden sich schemenhafte Grundrisse ab. Teilweise werden diese durch Vertiefungen unterbrochen, aber es ist gut zu erkennen, dass sie in einem Halbkreis angelegt sind. Fundamente der Stadtmauer, denkt Léon. Er nimmt das Geld aus seiner Tarierweste, taucht zum höchsten Punkt der Mauer, um es dort abzulegen. In einer Mulde beginnt er mit dem Messer zu graben und bricht eine Scherbe aus einem Klumpen Gestein. Berauscht steigt er auf. Kaum an Bord beginnt er aufgeregt zu erzählen. Flocke und Stinger sehen Léon ungläubig an, da hält er ihnen die Scherbe hin. Noch immer verstehen sie nicht, nur Miras wissender Blick verrät Léon ihre Gedanken.
Die Verfolger, schießt es Léon durch den Kopf.
„Wir sollten unsere nächsten Schritte an einem unauffälligeren Ort planen!
„Wo?“, will Stinger wissen.
„Wir verstecken uns im Yachthafen Darßer Ort“, überlegt Flocke, „dort gibt es keinen Hafenmeister und auch sonst ist da nichts los.
„Noch nie gehört“, sagt Léon.
„Kein Wunder, das ist nur ein Nothafen.“
„Warum das?“, fragt Mira. Es ist ihr egal, ob es eine dumme Frage ist.
„Er liegt im Naturschutzgebiet und ist der einigste Hafen weit und breit. Und Übernachtungen sind nur in Ausnahmesituationen erlaubt“, erklärt Flocke, ohne eine spitze Bemerkung machen zu wollen.
„Genau so eine haben wir jetzt!“, bestimmt Léon und gibt Anweisungen abzulegen.

Der Wind hat auf Nordwest gedreht. Auf halben Wind segelt die Bird of Prey mit leichter Lage. Léon sitzt mit Flocke in Luv auf der Steuerbordkante. Sie lassen ihre Füße über die dunkle Bordwand hängen. Mira steht auf einem Bein am Ruder, dass andere hat sie gegen die Cockpitwand gestützt. Es macht ihr Spaß, eine wichtige Aufgabe an Bord zu haben. Mit Freude treibt sie das Schiff durch die Wellen.
Dann klingelt Léons Handy.
„Wo seid ihr?“, fragt Flosse aufgeregt.
„Kurz vor Darßer Ort.“
„Seid ihr da sicher?“
„Ich denke schon. Warum fragst du?“, will Léon wissen und lässt Mira, Stinger und Flocke mithören.
„Wir konnten eine Verbindung zwischen den Kriminellen und Gerda Franke ermitteln.
„Wie das?“, fragt Léon aufgeregt.
„Es war nicht leicht und hat viel Zeit gekostet. Ein ehemaliger Hacker, der jetzt für uns arbeitet hat Gerda Frankes Computer angezapft. Er hat alle Tastenanschläge aufgezeichnet. Es war verrückt, das mit anzusehen. Gerda Franke wählte sich in ein Chatforum ein und wir konnten alles auf unserem Bildschirm mitverfolgen. Vor einigen Tagen hat sie den Mördern eine verschlüsselte Anweisung gegeben“, berichtet Flosse.
„Was für eine?“
Léon ahnt nichts Gutes.
„Eure Suche mit allen Mitteln zu verhindern!“
Mira, Stinger und Flocke sackt das Blut in die Füße.
„Die ist doch verrückt!“, ereifert sich Stinger so sehr, dass es auch Flosse hören kann.
„Genau!“, hören die drei Flosse aus dem Handy, „deshalb wurde sie auch in die psychiatrische Abteilung des Virchow Krankenhauses überwiesen. Dort ist sie dann völlig durchgedreht.“
„Inwiefern?“
„Sie glaubt, ihr wollt sie bestehlen.“
„Wie das?“, fragt Léon.
„Sie glaubt, dass es in Vineta unermessliche Reichtümer gibt, die ihr gehören.“
„Für was hält die sich?“, brüllt Flocke, was auch Flosse wieder gut hören konnte.
„Für die Auserwählte. Sie will Vineta erlösen. Der Psychologe der Klinik nennt es Verlustsyndrom.“
Flocke beginnt zu lachen.
„Starkes Stück.“
Mira überlegt.
„Das hört sich nach Problemen aus der Kindheit an?“
„Genau. Für den Arzt war es nicht schwer die Symptome bei ihr heraus zu hören.
„Was war mit ihrer Kindheit?“, will Léon wissen.
„Das ist eine längere Geschichte. Aber ich versuche sie verkürzt zu erzählen.“
Léon hält das Handy in die Mitte der zusammen gesteckten Köpfe.
„Es hat mit ihrer frühsten Erziehung zu tun. Ihr traditionsbewusster Vater war oft nicht zu Hause, er reiste durch die Welt und kümmerte sich um die Geschäfte der wohlhabenden Familie. In jungen Jahren fehlte er ihr. Auch die Mutter vernachlässigte ihre mütterlichen Pflichten. Sie kümmerte sich um nichts, nur um eines, sie suchte für ihre Tochter verbissen einen Ehemann mit blauem Blut. Sie drängte Gerda immer wieder und versuchte sie mit Tricks zu verkuppeln. Letztendlich kümmerte sich ein Stiefonkel um sie. Als sie sich das erste Mal in einen bürgerlichen Jungen verliebte, gab er ihr Halt. Von da an, war er immer für sie da und hat ihr die Liebe gegeben, die sie von ihren Eltern nie bekommen konnte. Später, als Gerda volljährig war heirateten die beiden.
Flosse macht eine Pause.
Und nun ratet mal, wer dieser Onkel war?“
„Fritz Franke“, antwortet Léon.
„Richtig. Später, als ihr Mann sie mit einer anderen Frau hinterging, brach ihre Welt erneut zusammen. Von da an liebte sie nur noch die von ihrem Vater übermittelte Geschichte über Vineta und begann wie er das Recherchieren. Sie heuerte sogar den Professor an, was anscheinend nicht so lief, wie sie sich das vorgestellt hatte.“
„Aber, warum wir?“, fragt Léon schockiert.
Mira antwortet anstatt Flosse.
„Sie hatte keinen Vater und keine normale Mutter. Verlor ihren Mann und nun wollen wir, wie ihr Mann und der Professor, ihr das letzte, was ihr im Leben geblieben ist, wegnehmen. Der Mythos Vineta, ihr Familienerbe.“
„Was für eine Geschichte?“, stöhnt Stinger.
„Was ist mit den Auftragskillern?“, fragt Léon.
„Sie werden über eine Bank auf den Bahamas bezahlt. Wir versuchen das zu verhindern, aber an den Grenzen Europas hört die Kooperation mit anderen Ländern auf und wir sind nicht sicher, wie wir das in Kürze schaffen können. Wir haben aber die Story den Zeitungen gesteckt. Morgen wissen die Ganoven, dass es für sie keine Bezahlung gibt.“
„Dann ist es also bald vorbei“, hofft Léon zum Abschied und legt das Handy erleichtert auf den Kompasstisch.

Erst mitten in der Nacht erreichen sie die Hafeneinfahrt des Nothafens Darßer Ort. Unter Maschine tuckern sie langsam auf die Hafeneinfahrt zu. Léon betätigt die Hydraulik, um den Kiel etwas anzuheben. Flocke übernimmt das Ruder und ist bemüht, am Tonnenstrich entlang zu fahren. Léon lehnt sich über die Bordwand und sucht das Wasser mit der Taucherlampe nach Untiefen ab.
„Da vorne scheint es flach zu werden!“, kreischt Mira.
Und tatsächlich, in nur drei Metern Entfernung kann Léon auf der anderen Schiffsseite einen Stock im Wasser sehen. Plötzlich wird die Bird of Prey gestoppt.
Léon stellt sein Bein auf die Bank und lehnt sich über die Reling.
„Mist, wir sitzen fest!“ Léon stößt Flocke hastig zur Seite.
Reflexartig kurbelt er das Ruder auf hart Steuerbord und gibt dabei ordentlich Gas.
Die Yacht beginnt sich auf dem Teller zu drehen. Léon liftet den Kiel und drückt den Gashebel weiter nach vorne. Die Maschine heult auf und langsam kommt das Schiff wieder frei.
„Dazu braucht es schon Mut.“
„Wofür?“, fragt Léon Mira.
„In dem Moment Gas zu geben, wenn man sich festgefahren hat.“
„Erfahrung. Ich habe nicht zum ersten Mal Grundberührung“, sagt Léon mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen.
Mit nur zwei Bootslängen Abstand zum Strand, bewegt sich die Bird of Prey langsam auf die Einfahrt zu. So dicht ist Léon noch nie am Strand vorbeigefahren, was nur durch die ausgebaggerte Rinne möglich ist. Hinter der Hafenmole herrscht die typisch nordische Stille. Der Hafen ist völlig leer, nur zwei spärliche Lichter beleuchten einen kleinen Weg am Wasser. Flocke stellt sich neben den Steuerstand.
„Als Hafen kann man das wirklich nicht bezeichnen. Ein vermoderter Holzsteg, sonst nichts.“
„Selbst den brauchen wir nicht“, sagt Léon und steuert die Yacht auf eine feuerrote Mooringboje zu. „Hol dir den Bootshaken aus der Backskiste und versuch´ die Boje einzuholen! Da die Verfolger erst morgen die Zeitung lesen werden, sollten wir heute abend an Bord bleiben! Wir machen das Boot nicht am Steg fest, sondern bleiben mit einer Leine an der Mooringboje!“
„Ich verstehe. Wenn diese Typen was von uns wollen, dann müssen sie schon zu uns rüberschwimmen.“
„Genau, und wenn sie kommen, lassen wir die Leine einfach aus der Öse rauschen und weg sind wir.“
„Gute Idee. Was ist mit einer Nachtwache?“, schlägt Mira vor, als sie zum Bug schreitet.
„Du und Stinger, ihr habt die erste Schicht!“
Kaum ist die Yacht festgemacht, holt Léon die Scherbe aus seiner Tasche. Während er sich das Stück ansieht, holt Mira ihr Notebook aus der Kajüte, um sich die Nachtwache mit Recherchieren zu verkürzen.
„Es scheint von einem Krug zu sein.“
„Einer Amphore“, verbessert Mira Léon.
„Griechen?“
„Genau. Sie könnte von einem Handelsschiff stammen.“
„Die waren hier?“, fragt Flocke verwundert.
„Ja, und nicht nur die. Slawen, Germanen, Dänen und natürlich Barbaren trieben in Vineta Handel. Sowie die Griechen und daher könnte die Scherbe ein 

Kapitel 15: Das Erdloch Teil 2