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Kapitel 16

Miami


Am folgenden Morgen in Léons Wohnbüro. Mira kopiert das Foto der Scherbe von der Kamera auf den Laptop. Léon stützt sein Gesicht auf seine rechte Hand und starrt auf den Bildschirm.
„Was meinst du?“, fragt Léon Mira interessiert.
„Langsam fange ich an, meine Neugier zu bereuen. Verrückte sind hinter uns her und das wird so weitergehen, bis diese Typen das kriegen, was sie wollen.“
„Uns bleibt nichts anderes übrig, als die Sache zu Ende zu bringen“, folgert Mira.
„Und dazu muss ich nach Florida fliegen“, sagt Léon entschlossen, „denn nur die Schwester von Robert Sander kann uns jetzt noch weiterhelfen. Nur sie weiß, ob es noch Unterlagen von ihrem Vater gibt.“
„Das geht nicht! Du hast in wenigen Wochen die Deutsche Meisterschaft. Ich fliege für dich. Ich bin im Recherchieren besser als du. Außerdem habe ich in den USA schon ein paar Monate gelebt.“
„Davon hast du mir noch nichts erzählt.“
Léon wird neugierig, indem er seinen Kopf wieder aus der Armstütze nimmt.
„Ich habe an der Rosenstiel School of Marine and Atmospheric Science in Miami studiert. Ich denke, dass sich ein paar Jungs noch gut daran erinnern können.“
Léon sieht ihr in die Augen. Dann verzieht er seine Lippen und meint:
„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.“
„Vertrau’ mir. Nur eines musst du mir versprechen. Kümmere dich bitte um Diego, so lange ich fort bin!“
Léon ist erleichtert.
„Verlass dich darauf. Ich verspreche dir, dass ich jeden Tag mit Diego laufen werde. Er bekommt seine Bewegung und ich meine Vorbereitung für die Meisterschaft.“

Zwei Wochen später wartet Léon in Laufschuhen auf dem Parkplatz vor dem Pferdehof. Er ist mit Stinger zum Joggen verabredet. Nachdem Stinger auf dem Parkplatz im Trainingsanzug des BTV´s auftaucht, holen beide Diego von der Weide. Auf Zuruf kommt Diego wiehernd auf sie zu gestürmt. Léon hält eine Mohrrübe in der Hand, die er mit forderndem Kopfnicken sofort haben will.
„Was sagen die anderen Reiter dazu, dass du mit Diego läufst, anstatt ihn zu reiten?“
„Du meinst die Reiterinnen. Es gibt nur wenige männliche Reiter und die halten mich für verrückt“, sagt Léon, als er dem Hengst das Halfter über den Kopf streift.
„Was machst du, wenn er versucht abzuhauen? Wirfst du dich dann an seinen Hals und zwingst ihn in die Knie?“, lacht Stinger über seine bildhafte Fantasie.
Diego brummelt durch die Nüstern. Léon wollte gerade loslaufen, stoppt aber wieder.
„Das hat er gar nicht gerne gehört“, kommentiert Léon die Reaktion des Hengstes. Er versucht Diego zu beruhigen.
Als begeisterter Marathonläufer ist Stinger auf den Lauf mit einem Hengst gespannt. Léon dagegen läuft wie versprochen jeden Tag mit Diego und spürt, dass das Tier ihm dafür dankbar ist, ohne Reiter durch den Wald traben zu dürfen. Diego hört auf das kleinste Kommando, und Léon merkt ihm sichtlich die Freude an. Am Anfang musste er noch lange verwunderte Blicke der Reiterinnen ertragen. Aber jetzt bemerkt auch Stinger, wie sie mit einem anerkennenden und freundlichen Lächeln begrüßt werden. Hinter der Koppel wechselt Diego in die zweite Gangart, den Trab. Stinger ist beeindruckt, wie leichtfüßig der Hengst dahin federt. Dennoch hält er zu Diego einen gebührenden Abstand, während Léons Schulter Diego berührt.
„Es ist leichter als mit einem an jeder Ecke schnüffelnden Hund zu laufen“, sagt Stinger vergnügt, dabei schmunzelt er, als wenn er sich das wieder bildlich vorstellen würde.
„Konzentrier’ dich lieber auf deine Lauftechnik! Selbst Diego trampelt nicht so wie du“, sagt Léon, um Stinger von diesem Blödsinn abzulenken.
Nach einer Viertelstunde werden sie schneller, und bei Diego beginnt die Mähne zu fliegen. Dabei stellt Stinger fest, dass Diego den Kopf nicht drehen muss, um ihn immer im Auge zu behalten.
„Der starrt einen ständig an“, hechelt Stinger, ohne den Hengst aus dem Auge zu verlieren.
„Das ist der Unterschied zu uns Menschen. Weil er ein Fluchttier ist, sitzen seine Augen seitlicher im Schädel. Für ihn ist es wichtiger zu sehen, was neben ihm läuft oder besser gesagt, was hinter ihm her ist. Wenn du erleben möchtest, wie wichtig das ist, seine Verfolger ständig sehen zu können, kannst du vorlaufen und Diego wird dich jagen.“
„Kein Bedarf!“, röchelt Stinger. Zusätzlicher Schweiß, der nicht vom Laufen stammt, perlt von seiner Stirn, weil er weiß, dass der Hengst Léon und Mira über die Weide gejagt hat.
„Mir reicht es schon, neben einem Tier herzulaufen, bei dem die Augen höher sind als meine“, gibt Stinger zu.
Auf keinen Fall will er von einem Pferd nieder getrampelt werden und macht einen Schritt zur Seite.
„Hast du mal ausprobiert, wie schnell Diego laufen kann?“, fragt Stinger, um Léon auf einen anderen Gedanken zu bringen.
Léon zieht das Tempo an.
„Nein, aber wir können es jetzt tun.“
Auch Stinger wird schneller und Diego wechselt in den leichten Galopp. Léon spürt die Power von Diego.
„Da werden Urinstinkte wach, nicht wahr?“
„Das schon, aber lange machen wir das nicht mit“, pumpt Stinger die Worte hervor, dem langsam die Luft wegbleibt.
Diego legt seine Ohren an, und durch das angezogene Tempo kommt er noch mehr in Schwung.
„Jetzt will er uns abhängen“, keucht Stinger, der sich im Stillen über die gute Kondition von Léon wundert.
„Nein, ich habe Diego es beigebracht, nach einer Weile schneller zu laufen, um mich zu trainieren“, quetscht auch Léon die Worte hervor.
Nach knapp eineinhalb Stunden kommen sie wieder am Reiterhof an. Während Stinger völlig außer Atem ist, freut sich Léon, dass auch Diego der weiße Schweißschaum an der Brust runter läuft.
„Der schwitzt zwar, aber er könnte das noch eine ganze Weile durchhalten“, sagt Léon befriedigt, als er Stinger ausgelaugt vor sich keuchen sieht.
„Er schon, ich nicht. Trotzdem hat es Spaß gemacht und wir sollten das unbedingt wiederholen“, sagt Stinger mit letzter Kraft, indem er sich völlig außer Atem nach vorne beugt, um mehr Luft zu bekommen.
„Du bist doch im Organisationskomitee für die Deutsche Meisterschaft“, fragt Léon das Thema wechselnd, dabei wirft er fünf Möhren in eine Schüssel.
„Ja“, antwortet Stinger, „und?“
„Ich habe mich um eine Berichterstattung gekümmert und eine E-Mail von einer Firma bekommen, die sich mit Liveübertragungen beschäftigt“, berichtet Léon und sieht Stinger dabei an.
„Wie heißt denn die Firma?“, will Stinger wissen.
„Medialine. Die haben ihr Büro direkt gegenüber von meinem Büro. Ich habe den Leiter, Herrn Ascherberg, angesprochen, und sie möchten über die Meisterschaft berichten und die Spiele ins Internet übertragen“, erzählt Léon, während Diego seine Schnauze geräuschvoll in die Schüssel hält.
„Das bedeutet, jeder, der einen Internetzugang besitzt, kann die Spiele live sehen, richtig?“
„Genau. Die rücken mit einem Team von vier Leuten an. Es werden drei Unter- und eine Überwasserkamera eingerichtet, damit den Zuschauern auch nichts entgeht. Alles, was die Techniker brauchen, ist ein DSL Anschluss für die Online Übertragung. Kannst du dich darum kümmern, dass dieser bei der Telefongesellschaft bestellt wird?“
„Na klar. Das wird das erste Mal sein, dass Tauchball überall auf der Welt im Internet zu sehen ist“, sagt Stinger begeistert, während Léon Diego in seine Box bringt.
Plötzlich klingelt das Handy. Mira erscheint im Display. Stinger nutzt die Gelegenheit sich zu verabschieden und steigt in seinen Wagen.
„Hi Mira, ich habe dich schon vermisst“, sagt Léon, glücklich von ihr zu hören.
„Es gibt was Neues von den Sanders. Auf meine Suchanzeige hin hat sich die Tochter Monika Sander bei mir gemeldet. Das Bild von der Scherbe und die Geschichte, die wir erlebt haben, hat sie überzeugt und sie will uns helfen. Du hattest übrigens recht, sie hat einige Unterlagen geerbt. Ihr Vater hat über Jahre hinweg eine Rekonstruktionszeichnung von Vineta angefertigt.“
„Ein Lageplan?“, unterbricht er sie.
„Quasi ja. Gut möglich, dass man mit dem Plan das Haus Wiek lokalisieren kann.“
„Kannst du mir eine Kopie per Mail schicken?“
„Das habe ich schon gemacht.“
„Was macht dein Kontakt in Kiel? Werden die Ausgrabungen bald beginnen?“
„So einfach ist das nicht, die brauchen fundierte Beweise, um die Mittel für die Forschungsreise zu bewilligen. Zuerst werden sie mit dem kleinen Schiff, der Polarfuchs, ein paar Taucher hinschicken. Bis dahin heißt es abwarten.“
„Sobald ich zu Hause bin, schaue ich mir die Karte an“, sagt Léon und wartet bis sie den Hörer aufgelegt hat.
Léon springt auf sein Rad und spurtet nach Hause. Dort angekommen startet er seinen Laptop und öffnet das Mailprogramm. Zahlreiche Mails werden angezeigt. Léon schiebt sie der Reihe nach in den elektronischen Papierkorb. Dann bleibt sein Zeigefinger über der Löschtaste kleben. Eine Mail von Mira wird angezeigt. Léon öffnet die angehängte Datei, und ein Plan entfaltet sich auf seinem Bildschirm. Léon ist überrascht, dass Prof. Dr. Sander die Stadt ebenso perspektivisch gezeichnet hat wie damals Adam von Bremen die Mappa Ordica. Léon schiebt die Karten auf dem Bildschirm übereinander. Er zoomt die Zeichnung bis der grobe Umriss der Stadt Jumme von der Rekonstruktionszeichnung gefüllt wird. Er starrt auf den Bildschirm. Er hatte recht. Die Durchfahrt zwischen Hiddensee und Rügen ist so eng, dass der West- und Ostteil durch eine Seebrücke verbunden war. Am Rand der Stadt ist ein Kreuz in einem Kreis eingetragen. Nicht weit von einem Punkt, wo Opferstelle geschrieben steht. Ihm ist klar, dass diese Markierung der gesuchte Ausgangspunkt für die Koppelkurse ist. Der Standort, mit dem er das Erdloch endlich finden kann.
Das Haus Wiek der Eichbehörde befindet sich im innersten Ring der drei Stadtmauern, die Vineta einst schützten. Jetzt wundert es Léon nicht, dass sie einst die größte Stadt im Mittelalter war. Denn schnell kann er erkennen, dass diese Stadt für die Seefahrer der schnellste und sicherste Weg war, ihre Waren an den Man zu bringen. Im Umkreis von hundert Seemeilen war Vineta damals der einzige Hafen in der Gegend. Aber was noch wichtiger war, die Waren konnten selbst bei Sturm bequem über die ruhigeren Boddengewässer ins Landesinnere weiterverschifft werden. Zu Vinetas Zeiten, als Rügen und Hiddensee noch mit einer Klappbrücke aus Holz verbunden waren, war es wohl der perfekte Ort um Handel zu treiben. Sie war sicher, der Seeverkehr leicht zu kontrollieren und ihrer Zeit voraus. In dieser Zeit war die Stadt ein Handelsimperium, bis sie durch ihre exklusive Lage am Wasser zerstört wurde. Eine Flutwelle aus dem Norden, wie sie nur alle tausend Jahre vorkommt, konnten die Stadtmauern nicht abhalten. Die Wassermassen von der offenen See überspülten die zulaufenden Landzungen und die Stadt wurde für immer in den Fluten begraben.

Kapitel 17: Die Meisterschaft