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Kapitel 8

Auf der Spur der Godewind


Zu Hause schaltet Léon seinen Laptop ein. Er will mehr über Prof. Dr. Sander erfahren. Seine Recherche beginnt beim Einwohnermeldeamt in Potsdam. Dort wird ihm erklärt, dass selbst der Amtsleiter Aussagen ohne eine Berechtigung nicht machen darf. Daraufhin erkundigt er sich beim Wasserstraßenverkehrsamt und versucht in Erfahrung zu bringen, ob 1932 eine Eintragung über ein Schiff mit dem Namen Godewind vorlag. Aber auch dieser Beamte verweigert jegliche Auskunft. Obwohl Léon schon vor Jahren nach Informationen über die Godewind im Internet gesucht hat, versucht er es jetzt mit einer der virtuellen Suchmaschinen. Léon tippt den Suchbegriff Godewind ein und auf seinem Bildschirm werden mehrere Seiten mit Links gelistet. Ohne brauchbare Ergebnisse klickt sich Léon sporadisch durch die Webseiten. Es gibt einfach zu viele Schiffe mit diesem Namen. Kurz entschlossen nimmt er den Hörer in die Hand und wählt die Nummer vom Hafengelände in Werder.
„Fischer“, hört ihn Léon sagen.
„Hallo, Léon hier.“
„Womit kann ich helfen, mein Junge?“
„Es geht um den Anhänger.“
„Ach, das Andenken vom Vater. Sehr nützlich, der Schlüssel schwimmt, wenn er mal ins Wasser fällt.“
„Ich wollte eigentlich etwas über die Godewind wissen. Was war das für ein Schiff?“
„Ja…, dass habe ich Robert auch einmal gefragt. Es war ein Frachtensegler. Der Vater forschte mit ihr in der Ostsee?“
„Wissen sie wo das Schiff seinen Heimathafen hatte?“
„Nein, nur dass sie vor langer Zeit gesunken ist, mehr wollte mir Robert nicht sagen.
„Das könnte mir helfen“, sagt Léon.
„Hat sie das Vinetafiber doch gepackt?“, witzelt Fischer vergnügt.
„Ich hoffe nicht, trotzdem würde ich gerne mehr über den Anhänger und über die Godewind erfahren.“
„Ich würde gerne helfen. Leider machte Robert aus allem ein Geheimnis.“
„Trotzdem, danke“, sagt Léon und legt den Hörer auf.
Léon tippt ‚gesunkene Frachtensegler Ostsee’ in die Suchmaske ein. Sieben Ergebnisse werden angezeigt. Nach vier Fehlversuchen klickt er auf einen Link, der zu einer Homepage führt. Auf mehreren Seiten ist ein Holzschiff beschrieben. Schwenke, der Besitzer, ist so stolz auf das Schiff, dass er viele Bilder mit Informationen ins Internet gestellt hat. Léon greift zum Telefonhörer und vereinbart ein Treffen.

Um sich den restaurierten Segler anzusehen fährt Léon zwei Tage später, mit einem geliehenen Wagen, nach Rostock. Dort angekommen wird er von Schwenke freundlich empfangen. Dieser lässt ihn eintreten und erzählt ihm den ganzen Ablauf der Restaurierungsarbeiten. Léon erfährt, dass das Schiff ein Adeliger konstruiert hat und es damals zwischen den Inseln eingesetzt wurde. Schwenke führt Léon unter Deck und erklärt ihm, dass die Godewind zu ihrer Zeit von einem Schiff gerammt wurde und sank. Durch die geringe Tiefe, nordöstlich vor Greifswald, konnte sie wieder gehoben und instand gesetzt werden.
Nachdem Schwenke seinen Vortrag beendet hat, fragt Léon ihn, ob er den Namen des Eigners kenne. Daraufhin führt er ihn zum Mastfuß, damit Léon selbst lesen kann, welcher Name dort in altdeutscher Sprache auf einem Messingschild eingraviert ist.
„Gebaut: 1932; Eigner: Prof. Dr. Sander“, liest Léon laut vor und bekommt dabei eine Gänsehaut. Aber nicht nur das Baujahr und der Name des Eigners ist dort zu lesen, sondern auch das ihm schon bekannte Wappen ist zu sehen.
„Was ist das für ein Wappen?“ fragt Léon verblüfft.
„Das ist das Familienwappen des Konstrukteurs. Johan von Bremen stammte aus dem Norden, lebte aber später mit der Familie bei Potsdam.“
„Wissen sie, wo die Godewind ihren Liegeplatz hatte?“, fragt Léon neugierig mit einer höheren Stimme als sonst.
„Sie meinen, als sie noch Herrn Prof. Dr. Sander gehörte?“, fragt Schwenke nachdenklich.
„Ja, genau“, antwortet Léon.
„Nein, aber die Mitarbeiter vom Konstruktionsbüro müssten es wissen. Leider hatte der Chef vor einigen Jahren einen schrecklichen Autounfall, aber das Büro gibt es immer noch.“
„Haben sie die Adresse?“, hakt Léon zum Abschied nach.
„Natürlich, ich schreibe es Ihnen auf“, erwidert Schwenke, und Léon macht sich auf den Rückweg.

In Potsdam angekommen fährt er nicht gleich nach Hause, sondern biegt zum Jungfernsee ab und stellt fest, dass das Konstruktionsbüro nicht weit von der Glienickerbrücke entfernt liegt. Kurz vor dem Gelände kann Léon eine aufgebockte Johan 44 aus Aluminium erkennen. Das Büro befindet sich in einem flachen Bau direkt am Wasser und mehrere Johan Rennyachten liegen schwankend in den Boxen. Léon wird von dem Geschäftsführer, Salzer, begrüßt und erklärt ihm, worum es geht.
„Ich war in Rostock und habe mir die Godewind angesehen. Sie wurde restauriert und befindet sich in einem sehr guten Zustand“, beginnt Léon die Unterhaltung.
„Ich habe davon gehört. Der alte Johan hätte sich über diese Nachricht sehr gefreut“, lächelt Salzer.
„Ist Johan von Bremen wirklich mit über 90 noch Auto gefahren?“, fragt Léon verwirrt.
„Nein, natürlich nicht. Der Chef Fritz Franke hatte mit seinem BMW den Unfall. Johan von Bremen, der Konstrukteur der Godewind, ist im Jahr 1968 gestorben.“
„Das heißt, dass sie, Herr Salzer, über die Godewind nicht viel wissen können?“, fragt Léon unverblümt.
„Das ist richtig, ich weiß nicht viel über die alten Frachtensegler, ich habe nur Fotos gesehen, aber vielleicht besitzt die Witwe noch Unterlagen über die Zeit ihres Vaters. Ich rufe sie an, damit sie gleich vorbeigehen können“, sagt Salzer freundlich.
Er nimmt den Telefonhörer in die Hand, wählt die Nummer von Gerda Franke und lässt Léon mithören. Ihre Stimme ist rau und herrisch. Sie will nicht gestört werden. Aber bei dem Namen Godewind ändert sie schlagartig ihre Meinung. Léon bedankt sich für die Hilfsbereitschaft und macht sich auf, die Witwe in Berlin-Kladow zu besuchen. Frau Franke wohnt in der Nähe vom Flughafen, nur eine viertel Stunde vom Konstruktionsbüro entfernt. Am Haus angekommen, braucht er nicht zu klingeln. Die Tür des grauen Reihenhauses geht von selbst auf und zwei kläffende und knurrende Rottweiler rasen auf Léon zu. Léon weicht zurück und ist froh, dass ihn der Gartenzaun von den Tieren trennt. Zwischen dem Bellen hört er Gerda Franke rufen. Da die Hunde nicht hören, kommt sie mit der Leine aus dem Haus, und zieht dem größeren Tier mit dem schwarzen Lederriemen eins über. Der Rottweiler jault verwirrt, bekommt ängstliche Augen und weicht geduckt zurück. Léon ist nicht wohl. Die Hunde bleiben unterwürfig an ihrer Seite, aber er sieht, dass die Tiere ihn am liebsten vor Wut zerreißen wollen. Im Wohnzimmer wundert sich Léon über die schlichte bürgerliche Einrichtung, die er bei einer Frau eines Yachtbauers mit blauem Blut nicht erwartet hätte. Nur eine antike Vitrine mit silbernen Münzen und einer Bernsteinkette darin erinnert an den vergangenen Reichtum. Mit Handzeichen lässt sie ihn auf einer von Krallen bearbeiteten Ledercouch Platz nehmen, während die Hunde, neben ihm, auf dem Teppich sabbernd an einem Wadenknochen nagen. Beide sehen sich musternd an. Erst nach einer Weile beginnt sie von ihrer Familie zu erzählen, dabei kramt sie in einer Schublade voller Bildern und Erinnerungen.
„Ein Schiff wird mit der Zeit ein Familienmitglied“, sagt sie und hält ihm die vom Licht vergilbten Fotos hin.
Auf der Rückseite ist ‚Jungfernfahrt der Godewind Wolgast 1932’ zu lesen.
„Das liegt doch bei Usedom?“, fragt Léon irritiert.
„Mein Vater“, beginnt Gerda Franke mit Stolz zu erzählen, „hat die Schiffe konstruiert, gebaut wurden sie auf der Werft am Peenestrom. Vor dem Krieg hatten wir ein Landhaus in dieser Gegend. Zwei Stockwerke im Bäderstil, es war das schönste an der Ostsee“, träumt sie und presst ihre schmalen Lippen in der Erinnerung zusammen.
„Ihr Vater war der Konstrukteur der Godewind?“, versichert sich Léon.
„Richtig! Sie dachten doch nicht etwa mein Mann…. Nein, nein… mein Mann hat eingeheiratet. Er war ein Taugenichts und nicht von blauem Blut. Er übernahm das Geschäft, verspielte unser Vermögen und nahm mir den Titel in meinem Namen“, erinnert sie sich verbittert.
„Wissen sie, wo die Godewind 1932 ihren Liegeplatz hatte?“, wechselt Léon das Thema.
„Nein, da ich aber das Logbuch habe, könnten wir nachschauen“, sagt sie mit zittrigen Lippen.
„Wie kommen sie an das Logbuch der Godewind?“, fragt Léon überrascht und wundert sich über ihr verwirrtes Verhalten.
„Mein Vater“, beginnt sie laut zu grübeln. „Niemand kannte das Schiff besser als er. Mein Vater erstellte das Gutachten.“
„Über den Schaden als sie gesunken ist?“, fragt Léon ungläubig.
„Richtig.“
„Wie konnte das nur passieren?“
„Dummer Zufall! Die Godewind wurde von einem wendenden Schlepper gerammt.“
„Dabei ist sie gesunken! Was passierte mit der Crew?“
„Keiner wusste etwas Genaues. Seitdem hat niemand mehr die Bootsleute und den Professor gesehen.“
Leichenblass sitzt Léon auf der Couch, da bringt die alte Frau eine in Leder gebundene Mappe. Auf dem Deckel ist in altdeutscher Schrift ‚Logbuch der Godewind’ zu lesen.
Vorsichtig, mit Blick auf die Hunde, blättert Léon durch die alten Seiten und liest, dass der Frachtensegler im Strelasund unterwegs war. Er überblättert die Einträge, sucht den letzten, findet aber nur noch kleine Fetzen einer abgerissenen Seite. Léon merkt, wie ihre Augen ihm beim Studieren des Logbuches folgen.
„Warum interessiert sie das alte Schiff so sehr?“, will die Alte plötzlich wissen.
„Ich darf eine Segelyacht benutzen. Es trägt das selbe Wappen wie die Godewind.“
„Hat es einen Namen?“, wird Gerda Franke hellhörig.
„Bird of Prey“, antwortet Léon, unfähig in diesem Moment zu lügen.
„Das Schiff hat viel Hydraulik an Bord“, sagt sie wissend.
„Ja, der Hubkiel, die David und der Jüttbaum. Sie kennen die Yacht?“, fragt Léon erstaunt.
„Selbstverständlich, das Schiff hat Alfa Yachts für Johan Yachts gebaut“, antwortet sie wieder stolz.
Das erklärt, warum beide Schiffe das gleiche Wappen als Kennung haben, denkt Léon noch immer verwirrt.
„Kannten sie den Eigner?“, fragt Léon weiter.
„Natürlich, auch ein Sander“, sagt sie wirsch.
„Was für ein Zufall, dass ihr Vater die Godewind für den Professor und ihre Firma die Bird of Prey für den Sohn des Professors konstruieren ließ.“
„Das war kein Zufall! Mein Mann lernte durch meinen Vater den Professor und seinen Sohn auf Rügen kennen. Von da an hingen die immer zusammen“, sagt sie und Léon spürt, dass sie es nicht mochte.
Da kommt Léon das Foto mit der Mies van der Rohe Villa in den Sinn, und ihm wird klar, dass der Mann, der neben dem Professor steht, ihr Ehemann Fritz Franke sein musste.
Nach einer kurzen Pause spricht sie weiter:
„Sie haben jetzt die Bird of Prey?“
Die Alte schmunzelt, so als wenn eine zu Ende geglaubte Geschichte nun weitergeht.
„Ich werde sie in Ehren halten“, lächelt Léon unsicher, um ihr zu versichern, dass das Schiff in guten Händen ist.
„Dem jungen Sander hat sie kein Glück gebracht. Das Schiff brachte nur Verderben“, sagt sie zum Abschied und Léon fühlt, dass sie daran Freude hat.
Er steht auf, denkt an die Morde, unfähig sie weiter zu befragen.
Mit abweisendem Blick legt sie den Hunden Ketten an und Léon lässt sich ohne Abschiedsworte aus dem Haus eskortieren.

Kapitel: 9 Léons Freunde