Ihre Browserversion ist veraltet. Wir empfehlen, Ihren Browser auf die neueste Version zu aktualisieren.
Kapitel 13 Teil 2

Die Abmachung Teil 2

 

Mit einem lauten Plong setzt sich der Wassertrog in Bewegung. Langsam bewegt sich die Wanne nach unten. Erst nach fünf Minuten Fahrtzeit erreichen sie das untere Niveau des Oder-Havel-Kanals. Als der Boden in greifbare Nähe kommt, begibt sich die Crew der Bird of Prey wieder an Bord. Die Stahlsperre öffnet sich langsam. Die Yacht legt ab und wieder prasselt ein Band aus Wassertropfen auf das Deck nieder. Wie durch einen zauberhaften Vorhang öffnet sich eine grüne Welt. Eine wilde Landschaft aus dornigen Büschen und feuchten Wiesen. Nachdem das Schiff einigen Abstand zum Hebewerk gewonnen hat, schauen alle zurück und sehen wie das Ungetüm hinter einer Kurve aus ihrem Blickfeld verschwindet. Der Kanal öffnet sich, wird zum natürlichen Gewässer und windet sich durch urtümliche Landschaft. Mira entdeckt am Ufer eine Bachstelze zwischen den purpurroten Blättern des Blutweiderichs, was ihr den Eindruck von unberührter Natur vermittelt. Alle Vier erleben hautnah eine Wildnis, mit der sie nicht gerechnet haben. Immer tiefer dringt die Bird of Prey in unbewohntes Gebiet vor und lässt die Mannschaft aus Respekt vor der Natur verstummen. Sie biegen in eine Kurve und als Léon das Ruder wieder in die Mittelstellung bringt, weitet sich die Wasserfläche zu einem verwinkelten See aus. Das Wasser des Sees ist so klar, dass Léon die Wasserpflanzen auf dem Grund erkennen kann, die sich in der leichten Strömung wiegen. Léon macht den Vorschlag hier zu übernachten, und alle sind sofort einverstanden. Das Boot wird gestoppt, und ohne Worte geht Flocke nach vorne, um die Ankerleine zu klarieren. Der Tiefenmesser piepst und zeigt eine Tiefe von ein Meter achtzig an. Per Knopfdruck und mit summendem Ton verringert Léon den Tiefgang. Auf sein Zeichen lässt Flocke den Anker mit klirrendem Geräusch zu Boden sinken. Dann stellt Léon den Motor ab und alle lauschen für einen Moment der Ruhe, die sich wie ein sanfter Schleier über den ganzen See ausbreitet. Stinger kommt auf die Idee, baden zu gehen und schon geht das Gewusel an Bord los. Im Nu stehen drei nackte Männer auf dem Vordeck und sind bereit für einen Sprung in das kühle Nass. Übermütig springt Stinger als erster mit einem Salto vorwärts vom Bugkorb in das spiegelglatte Wasser. Obwohl er beim Auftauchen über das kalte Wasser jammert folgen ihm Flocke und Léon im Sekundentakt. Mira dagegen nimmt sich Zeit. Als sie im Stringbikini mit betont verführerischem Gang über das Deck schreitet, verstummt das wilde Geschrei. Sie spürt, wie ihr die Blicke folgen, setzt zum Sprung an und taucht mit einem eleganten Kopfsprung in das Wasser ein. Erst nach vier Bootslängen taucht Mira wieder auf, und die Jungs müssen ihre Köpfe verdrehen, um sie in der Mitte des Sees zu entdecken. Damit sie warm werden und ihre Energie nicht sinnlos in einer wilden Planscherei vergeuden, schlägt Mira gemeinsame Tauchübungen vor. Schon kurz darauf durchpflügen die Vier, im Delfinstil, den blauen See, als wenn sie darin geboren wären. Ausgelassen werden Tauchübungen und Wettschwimmen veranstaltet, bis sie die Kälte wieder aus dem Wasser treibt. Während der Badespaß sein Ende findet, geht Flocke als erster an Bord und stellt für die Männer ein kühles Bier und für Mira eine Zitronenlimonade bereit. Es dauert nur Sekunden und jeder hat seinen Krug geleert. Als alle gemütlich um den Cockpittisch sitzen, sieht Léon über die Bäume hinweg in den Himmel, da springt er plötzlich auf. Eine Front mit Wolken zieht heran, so wie er es noch nie zuvor gesehen hat.
„Das Unwetter. Ich habe völlig vergessen, den Wetterbericht abzurufen“, grübelt Léon mit schuldbewusster Stimme.
„Stimmt, die Sturmwarnung, das haben wir völlig vergessen“, erinnert sich auch Flocke.
Alle starren in den Himmel und sehen, wie eine Wand aus Wolken schnell näher kommt.
„Mit wieviel Wind haben wir zu rechnen?“, fragt Léon und sieht dabei Flocke an.
„Ich weiß es nicht“, er zuckt mit den Achseln.
Léon steigt über die Steuerbordwinsch und geht unter Deck. Nach einer Weile kommt er mit seinem Laptop wieder. Mira räumt hastig eine Stelle auf dem Tisch frei. Léon stellt das Gerät ab und klappt den Bildschirm auf. Ungläubig sieht ihm Flocke zu.
„Ich hoffe, wir haben hier Empfang?“
„Sicher“, meint Léon, während das Betriebssystem den Browser startet. „Bestimmt gibt es eine Antennenstation auf dem Gebäude des Schiffshebewerks.“
„Wunderwerk der Technik“, ist Flocke erleichtert, „es scheint zu klappen und das mitten in der Wildnis.“
Léon ruft die Internetseite des Deutschen Wetterdienstes auf.
„Für Brandenburg und Mecklenburg gibt es eine Unwetterwarnung. Sturm Oskar wird mit Windgeschwindigkeiten von 12 Beauforts aus Nordwest erwartet“, liest Léon beeindruckt vor.
„Ist das viel?“, fragt Mira und sie ahnt, dass es eine dumme Frage ist.
„Viel? Das bedeutet Wind von über 100 Stundenkilometern. Bei so einem Wind kann der beste Anker ausbrechen und das bedeutet, dass wir uns auf einen heißen Tanz einstellen müssen“, antwortet er ihr, ohne sie tadeln zu wollen.
Léon schaut auf den Kompass. Dann zeigt er mit ausgestrecktem Arm in eine Richtung.
„Von dort kommt der Sturm. Wir verlegen die Bird of Prey in die Abdeckung der Bäume“, bestimmt Léon und dreht sich dabei um.
Sofort wird es hektisch an Bord. Nur Stinger bleibt untätig auf der Bordkante sitzen. Er schaut sich die vorbeiziehenden Wolken an und lauscht dem Rauschen der Baumkronen. Léon, Flocke und Mira bilden eine Kette, um den Tisch abzuräumen. Eine Bö fegt Miras Bikinihose vom Deck, da fordert Léon Stinger auf, den Anker zu lichten.
„Beeil dich, wir müssen hier weg!“, macht Léon Druck.
Léon startet den Motor, während Stinger schwankend zum Bug des Schiffes geht. Er hört den Motor der Ankerwinsch schnarren und legt den Vorwärtsgang ein. Da drückt auch schon eine Böe das Schiff zur Seite und das schrille Pfeifen des Tiefenmessers ist wieder zu hören. Léon reagiert schnell. Er legt Ruder und hält mit dem Motor dagegen.
„Anker geborgen“, ruft Stinger nach achtern.
Léon steuert die Bird of Prey zum gegenüberliegenden
Ufer und beginnt einen Kreis zu fahren, um die Tiefe im Ankerbereich auszuloten. Der Himmel verfinstert sich. Donner ist in der Ferne zu hören, und der Wind treibt Wellen auf den See. Durch den Krach der flatternden und schlagenden Leinen brüllt Léon:
„Hier ist es tief genug! Dort drüben, an der Kiefer können wir fest machen!“
Léon hält sich mit einer Hand am Steuerstand fest, um nicht von Bord geweht zu werden.
„Ich brauche einen Freiwilligen, der die Leine an Land bringt!“, schreit Léon.
Im Gegensatz zu dem vorherigen Badeaufruf macht jetzt keiner Anstalten, diesen Job zu übernehmen. Mit der Entscheidungsgewalt eines Kapitäns holt er die anderen zusammen.
„Wenn sich keiner meldet, dann bestimme ich jemanden“, droht er der Mannschaft.
Léon wartet und schaut jeden einzelnen an.
„Also keiner“, überlegt Léon laut, „Mira fällt aus, weil sie keinen Seemannsknoten kann. Es kommen nur Flocke und Stinger in Frage. Da Stinger die bessere Kondition von beiden hat, ist die Entscheidung klar. Du hast den Heldenjob!“, starrt Léon Stinger an.
Stingers blasiertes Gesicht beginnt zu zucken.
„Ich mache das nicht!“
„Was heißt das, du machst das nicht?“, blafft Léon.
„Was ist mit dir Léon? Warum gehst du nicht?“
„Ich muss das Boot auf Position halten. Außer mir ist dazu keiner imstande. Wenn du nicht willst, dann macht Flocke den Job.“
„Der Sturm nimmt zu“, argumentiert Stinger verzweifelt.
„Eben! Ich hoffe, dass wir bis dahin am Baum festgemacht haben“, sagt Flocke anstelle von Léon.
Léon schaut ihm in die Augen.
„Wir haben keine Zeit zum Diskutieren. Bei einem Strafwurf, den ich werfen soll, weigere ich mich auch nicht. Machst du es jetzt oder nicht?“, wird Stinger von Léon vor die Wahl gestellt.
„OK, ich habe verstanden“, antwortet Stinger, um seine Autorität als Trainer nicht zu verlieren.
Während Stinger dabei ist, seine Sachen auszuziehen, setzt heftiger Regen ein. Aus Regentropfen werden Wasserfäden und die Oberfläche des Sees färbt sich von blaugrün ins Weiß. Innerhalb von Sekunden sind alle vollkommen durchnässt.
„Ich habe die Leine mit einem Hahnepot auf zwei Klampen belegt. Stinger soll sich gefälligst beeilen!“, fordert Flocke.
Das Donnergrollen kommt näher, Blitze zischen in den Wolken, da ist Stinger immer noch nicht von Bord. Léon lässt den Motor aufheulen, um wieder auf Position zu kommen. Pitschnass reicht Flocke Stinger die Leine. Noch hasst Stinger die Situation, beginnt aber dann damit sich auf die Aufgabe zu konzentrieren. Er lässt den Blick von einem zum anderen schweifen, während er sich mit verzerrtem Gesicht in das aufgewühlte Wasser gleiten lässt. Stinger entfernt sich schnell vom Schiff, und die an Bord Gebliebenen haben große Mühe, ihn im Auge zu behalten. Derweilen nimmt der Wind rasch zu und für Léon wird es immer schwieriger, die Position zu halten. Der Bug bricht ständig aus. Schließlich drückt eine pfeifende Böe das Schiff zur Seite. Léon bleibt nichts anderes übrig als abzufallen, um dann wieder in den Wind zu drehen. Auch das gelingt nicht. Dabei wickelt sich die Leine um den Rumpf. Sofort wird Stinger unter Wasser gezogen. Wie an einer Schleppangel zieht ihn die treibende Yacht auf den See hinaus. Reflexartig packt er die Leine fester, wie den Ball in einem Spiel, den er nicht verlieren will. Hustend und orientierungslos kommt er wieder an die Wasseroberfläche. Als er keinen Zug mehr spürt, kann er weder Land noch Boot sehen. Er dreht sich um und sieht, wie die Bird of Prey quer zum Wind auf den See hinaustreibt. Er holt tief Luft und lässt sich abermals mitziehen, bis Flocke endlich die Leine an Bord lösen kann. Für Stinger ist es jetzt keine unangenehme Aufgabe mehr, sondern eine mentale Herausforderung, die es zu meistern gilt. Mit aller Kraft schwimmt er in Richtung Land. Währendessen manövriert Léon das Schiff in den Wind und steuert es wieder auf Position. Vor Kälte schlotternd erreicht Stinger das schlammige Ufer. Der Wind nimmt zu und lässt die Bäume zum Brechen biegen. Bis zu den Waden steckt Stinger im Morast und zerrt an der zu kurzen Leine. Mira bemerkt die Spannung in der Leine und teilt es Léon mit. Er gibt kurz Vollgas. Der Motor heult auf und die Bird of Prey macht einen Satz nach vorne. Schnell legt Stinger die Leine um die Kiefer, da wird die Yacht wieder von einer Böe erfasst und nach achtern versetzt. Mit einem Ruck wird Stinger um den Baum gezogen und reißt sich an der rauen Rinde die Hände blutig.
Vor Wut und vor Verzweiflung schreit er zu ihnen hinüber: „Mehr …. Leine!“
Aber an Bord kann ihn keiner hören, der Wind ist einfach zu laut. Mit heulendem Getöse jagt der Sturm über das Deck. Während die Spannung für einen Augenblick nachgibt, kann Stinger mit aller Kraft die Leine noch mal um den Baum legen und mit einem Webeleinstek festmachen. Stinger schaut an der strammen Leine entlang und sieht, wie das Schiff in dem Grau verschwindet. Vor Kälte erschöpft, bleibt er am schlammigen Ufer sitzen. In diesem Moment ordnet Léon das Vermuren an. Dazu lässt Flocke den Buganker mit der Hand zu Wasser, während Léon das Schiff mit Ankerwinsch in Richtung Land verholt. Nach circa zehn Metern belegt Flocke die Ankerleine. Er setzt das schwere Reitgewicht darauf und lässt es hinunter gleiten. Der Wind peitscht Léon Schwaden von Gischt in sein Gesicht. Als der Regen waagerecht fliegt und der Krach des Windes in Miras Ohren tobt, fühlt sie wie Panik in ihr aufsteigt. Auch für Stinger hat die Umgebung ihre Lieblichkeit verloren und sich innerhalb kurzer Zeit in eine Wasserhölle verwandelt.
„Kannst du Stinger sehen?“, ruft Léon zu Flocke rüber.
„Nein“, brüllt dieser zurück.
Sie schauen an der Leine entlang, die nach wenigen Metern im Nichts verschwindet. Minuten vergehen und plötzlich ein Zeichen. Die Leine taucht unter.
„Er hat sich an das Seil gehängt. Hol den Bootshaken!“, brüllt Léon Flocke in sein Ohr.
Endlich können sie Stinger erkennen, wie der Wind ihn auf sie zutreibt. Vom Bug aus streckt ihm Flocke den Bootshaken entgegen. Stinger greift danach. Gemeinsam ziehen sie ihn an der Bordwand des Schiffes entlang. Plötzlich bricht der Bootshaken und Stinger taucht unter. Léon überlegt nicht lange. Mit einem Satz springt er über die Reling ins Wasser. Er bekommt Stinger am Arm zu fassen und zieht ihn wieder nach oben. Mit vereinten Kräften hieven Mira und Flocke die beiden über die Heckplattform an Bord. Völlig erschöpft liegen sie im Cockpit.
„Nach unten mit ihnen!“, brüllt Flocke.
Mit aller Kraft hilft Mira Stinger unter Deck zu bringen. Auf dem Sitzpolster liegend, beugt sich Léon über Stinger und betrachtet seine blutige Hand.
„Das hat dir Spaß gemacht?“, glaubt Léon.
„Wir sollten das öfter trainieren“, antwortet Stinger ohne ihm böse zu sein.
Während sich die Crew die nassen Kleider auszieht, tobt draußen weiter der Sturm, der sich nun voll zu entfalten scheint. Unglaubliche Kräfte versuchen das Boot vom Baum loszureißen. Die Festmacherleine ist zum Bersten gespannt und das Schiff wird wie eine Fahne im Wind, hin und her getrieben.
Emsig verbindet Mira Stingers Hand mit einer Mullbinde. Léon misst die Windgeschwindigkeit.
„Zehn Beauforts und er nimmt noch weiter zu. Wir können froh sein, dass wir uns in der Abdeckung des Waldes befinden. Über den Bäumen tobt ein Orkan“, teilt er den anderen besorgt mit.
„Wird die Leine halten?“, fragt Stinger mit deutlich leiserer Stimme als sonst.
„Wird dein Knoten halten, ist die richtige Frage?“, antwortet ihm Léon. Ich werde sicherheitshalber unsere Position ständig beobachten“, fügt Léon hinzu.
„Wie das denn?“, fragt Mira, die es sich inzwischen auf der Sitzbank gemütlich gemacht hat.
Léon sieht zur ihr hinüber.
„Mit dem Tiefenmesser und mit dem GPS. Und alle 15 Minuten werde ich draußen einen Blick riskieren und nachsehen, ob Land in Sicht kommt“, scherzt Léon.
An der Bordwand sind Fließgeräusche zu hören.
„Obwohl wir uns nicht von der Stelle bewegen, hat man das Gefühl durch das Wasser zu fahren“, bemerkt Flocke aufgewühlt.
„Das stimmt auch. Die Bird of Prey ist so gebaut, dass sie gegen den Wind segeln kann. Bei starkem Wind, bietet der Rumpf schon alleine genug Segelfläche. Deshalb segelt sie an der Leine hin und her, wie beim Kreuzen“, berichtigt Léon ihn.
Das Getöse des Sturms scheint kein Ende zu nehmen. Mit ängstlichem Blick liegt Mira in den Polstern. Da macht es sich Léon neben ihr bequem. Er nimmt ihre Hand, um sie zu beruhigen und sagt:
„Uns kann nichts passieren.“
Flocke betrachtet Mira und sieht dann die anderen der Reihe nach an.
„Stellt euch vor, wir wären jetzt auf hoher See oder hoch oben im Trog des Schiffshebwerks“, verschärft er die Stimmung.
„Lieber nicht“, meint Stinger, der so schon genug von dem hatte, was sie gerade erlebten.
Plötzlich hören alle ein knorriges Geräusch, dann ein Knacken, was sich schließlich zu einem mächtigen Krachen entwickelt, bis es schließlich schlagartig wieder aufhört. Léon schwingt sich zum Niedergang. Durch den heftigen Regen kann er nicht das Geringste sehen. Wieder hören sie ein Knirschen, nur diesmal viel näher. Mira schaut noch ängstlicher als zuvor.
„Unheimlich“, flüstert Stinger und lässt seine Pupillen an der Decke entlang rollen.
Auch Léon schaut gespannt nach oben.
„Da stürzen Bäume um.“
Wieder hören sie ein Knacken. Dann ist es genau zu hören. Splitterndes Holz wird mit Gewalt auseinandergerissen.
„Da kommt was Großes auf uns zu!“, warnt Léon die anderen, während er reflexartig zwei Stufen tiefer in die Hocke geht.
Das Quietschen des Holzes wird lauter, dann Rauschen, was mit einem mächtigen Gepoltere auf dem Deck endet. In letzter Sekunde duckt Léon sich, als ein mächtiger Ast sich durch den Stoff der Sprayhoot bohrt.
Léon ist entsetzt.
„Uns ist ein Baum auf das Deck geknallt.“
„Hoffentlich nicht der, an dem wir festgemacht haben“, brummelt Stinger für dieses Ereignis viel zu ruhig.
Léon hat sich am Arm verletzt, arbeitet sich dennoch durch das Blätterwerk. Er kann es einfach nicht glauben, dass die Baumkrone einer großen Buche auf seinem Schiff liegt.
„Jetzt haben wir ein Baumschiff“, scherzt Flocke. Noch bevor ein Grinsen auf seinem Gesicht entsteht; erntet er einen zornigen Blick von Léon.
Léon steigt den Niedergang runter, holt ein Schlachtermesser aus der Schublade und beginnt wild an dem Ast zu hacken. Ohne das schützende Stoffverdeck regnet es in Strömen rein und wieder beginnt der Kampf gegen das Wasser. Schließlich kann Léon den Ast abschlagen und das Schiebeluk schließen.
„Für heute reicht es mir“, meint Léon und nimmt das Glas mit Rum in die Hand, das Flocke für ihn eingeschenkt hatte.
Mit einem Schluck leert er den Inhalt.
„Wir können jetzt nichts mehr tun. Der Baum hat das Schiff eingekeilt, was auch etwas Gutes hat. Um die Position brauchen wir uns heute Nacht keine Sorgen zu machen“, meint Léon mit Frust in der Stimme.
Sieben Stunden dauert der Sturm und erst spät in der Nacht, als die Crew in ihren Kojen schläft, lässt der Wind nach.

Am nächsten Morgen ist die Luft anders als sonst, kühler und reiner. Es geht kein Wind, kein Laut ist zu hören, es riecht nur intensiver. An diesem Morgen wagt sich Flocke nur langsam auf das Deck. Beim Hochkommen traut er seinen Augen nicht. Durch das dichte Blätterwerk erkennt er, dass etliche Bäume in den See gestürzt sind. Eine riesige Schneise ist im Wald entstanden. Der Sturm hat diese liebliche Landschaft in ein Schlachtfeld verwandelt. Zurück unter Deck, schaut er Léon wie ein Brüllaffe an, weil dieser mit der Zubereitung von Omeletts beschäftigt ist.
„Angenehm. Die Nacht war die Hölle. Wir hatten beinahe Stinger verloren, ein Baum liegt auf dem Schiff, du hast dich am Arm verletzt und nun machst du mit fröhlicher Miene gebratene Eier mit Schafskäse!“
Léon wirkt entspannt und gibt ihm eine Gabel zum Probieren.
„Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Das Deck ist heil. Nur der Mast ist aus der Halterung gerutscht, aber noch an einem Stück. Die Sprayhoot“, ergänzt Léon gut gelaunt, „lässt sich leicht reparieren.“
„Wo sind wir?“, fragt Stinger, indem er aus der Koje kommt. Er befürchtet, dass die Welt durch den Sturm eine andere geworden ist.
„Da, wo wir gestern waren“, antwortet Léon und lächelt dabei.
„Wir sind nicht weit von der polnischen Grenze entfernt, das wissen wir schon seit gestern“, antwortet Mira durch die geschlossene Kajütentür und jeder spürt, dass sie wieder die alte ist.
Léon sieht es ihr an. Sie hat schlecht geschlafen, was kein Wunder ist. Der Duft von gebratenen Eiern und Kaffee erhellt dennoch ihr Gesicht. Sie reibt sich die Augen, als wenn sie einen bösen Geist verscheuchen möchte, und öffnet die Tür.
„Bös geträumt?“, fragt Léon.
„Das werde ich gleich merken, wenn ich an Deck komme und sehe, ob ein Baum darauf liegt oder nicht“, gibt sie ihm zur Antwort.
Schon merkwürdig, da fährt man einmal mit dem Boot weg, und schon erlebt man einen Sturm, der einen Namen hat, denkt sie noch, als sie merkt, dass sie nicht geträumt hat.
Flocke will gerade zur Toilette gehen. Er hört Mira sprechen und beginnt das Sticheln.
„Rasmus hat ganze Arbeit geleistet.“ Flocke wartet auf ihre Reaktion und spricht dann doch weiter. „Das kommt davon, weil wir ihm gestern kein Opfer dargebracht haben.“
Prompt springt sie darauf an.
„Obwohl wir einen Kater hatten, erwartet Rasmus eine Opfergabe?“, fragt sie ungläubig.
Flocke hält die Tür vom Bad in der Hand, und bevor er die Türe hinter sich schließt frotzelt er: „Scheint wohl so.“
„Wir können uns beruhigen. Es ist nichts Schlimmes passiert und Rasmus hat sicherlich nichts damit zu tun“, klärt Léon freundlich die Situation.
„Aber, es hätte was passieren können“, bemerkt Mira und schaut dabei zu Léon.
„Ich finde es ist genug passiert. Immerhin ist uns ein Baum auf das Deck gefallen“, sagt Stinger, während er sich um die Maststütze herum auf die Sitzecke schwingt.
Mira stützt sich mit beiden Händen auf dem Kartentisch ab und blickt die anderen fragend an.
„Wie kommen wir hier weg?“
„Wir müssen die Äste abschneiden!“, antwortet Léon und legt ihr ein duftendes Omelett auf den Teller.
Stinger holt sein Tauchermesser hervor und fuchtelt mit dem Messer über seinem Teller rum.
„Ich habe eine Säge dran.“
Léon schaut sich die beiden schmunzelnd an.
„Ich glaube, euch ist das Ausmaß nicht ganz klar. Mit deinem Messerchen wird es Wochen dauern, bis du die Krone zerkleinert hast. Wir brauchen da schon was Heftigeres. Wahrscheinlich sind noch weitere Bäume umgefallen, die uns den Weg zur Oder versperren. Um uns zu befreien brauchen wir eine Axt, besser noch eine Motorsäge.“
„Wo sollen wir in dieser Wildnis das herbekommen?“, fragt Stinger verständnislos.
Zwei von uns müssen sich auf den Weg machen und geeignetes Gerät beschaffen. Wer geht freiwillig?“, fragt Léon am Ende.
Stinger und Mira schauen sich beide verdutzt an. Jetzt wird Stinger klar, warum Léon so fröhlich ist. Er glaubt, dass er mit ihr gehen soll. Dann ergreift Mira das Wort und sieht einen nach dem anderen an.
„Stinger fällt diesmal wegen seiner Hand aus. Und Flocke wollen wir die Peinlichkeit, nein zu sagen, ersparen. Wir beide werden gehen!“, bestimmt Mira frech.
Alle sehen sie entgeistert an.
So hat sich Léon das nicht vorgestellt. Aber auf keinen Fall möchte er Mira in dieser prekären Situation widersprechen.
„Ein bisschen Bewegung wird uns gut tun. Ich habe auf der Karte nachgesehen. Bis nach Niederfinow brauchen wir zu Fuß fünf oder sechs Stunden. Das bedeutet, dass wir spät zurückkommen“, sagt Léon, obwohl er mit Mira so lange nicht allein sein will.
Dann geht die Tür der Nasszelle auf und Flocke tritt mit überraschter Miene heraus.
„Alles geklärt?“, fragt Flocke, aber niemand antwortet ihm.
Nach dem Frühstück zieht Mira ihre Wanderschuhe und eine warme taillierte Sportjacke an. Dann schnallt sie sich einen Rucksack auf den Rücken. Abmarschbereit kommt sie aus ihrer Kajüte, da spricht Léon sie an.
„Ich glaube nicht, dass wir so viel brauchen. Nur etwas zu trinken und zu essen, müsste reichen. Schließlich haben wir auf dem Rückweg eine Motorsäge dabei“, erklärt Léon, in der Befürchtung, alles alleine tragen zu müssen.
„Wir werden sehen“, gibt Mira ihm zu verstehen, dass sie ihren Rucksack nicht dalassen wird.
Er klettert als erster von Deck in die Äste der Buche und stellt nochmals beruhigend fest, dass es sich nicht um die Kiefer handelt, an der sie festgemacht haben. Er arbeitet sich durch das dichte Geäst. Mira folgt ihm. Zehn Minuten brauchen sie alleine, um von Bord zu kommen. Im Wald sieht es nicht besser aus. Etliche Bäume sind umgestürzt. Mira und Léon sind ständig mit Klettern beschäftigt und kommen nur langsam voran. Immer wieder müssen sie Umwege laufen, um an den umgestürzten Bäumen vorbei zu kommen.
„Wenn das so weiter geht, dann kommen wir erst nächste Woche an“, übertreibt Léon.
„Was schlägst du vor?“
„Wir gehen solange es hell ist, und dann werden wir weitersehen!“
Stunde um Stunde arbeiten sie sich durch den Wald, bis der Vollmond über dem Nadelwald zu sehen ist und alles in einen Schatten taucht. Ruhe kehrt ein, nur das saftige Knirschen der kleinen Äste unter ihren Schritten ist deutlich zu hören. Nebel bildet sich über dem Wasser und Léon wird klar, dass sie es heute nicht mehr schaffen können.
„Wir werden im Wald schlafen müssen“, meint Mira ängstlich zu Léon.
„Das wird ungemütlich“, und er meint damit nicht nur den feuchten und harten Waldboden.
„Vielleicht auch nicht. Ich habe einen Eskimoschlafsack dabei.“
Léon sieht sie verblüfft an.
„OK. Las uns eine Stelle für die Nacht suchen. Das ist sicher besser, als die ganze Nacht umher zu rennen.“
Léon schaut sich um und entdeckt eine kleine Lichtung in der Nähe des Wassers.
„Hier bleiben wir!“, bestimmt er.
Mira schaut nach unten.
„Der Boden ist feucht.“
„Ich mache uns ein Feuer, dann wird es darum ein wenig trocknen“, erklärt Léon, während er nach Brennholz sucht.
Auf seinem Knie zerbricht er die feuchten Äste, um mit der Bruchstelle trockenes Holz freizulegen. Mit dem Tauchermesser schnitzt er Späne und legt diese auf ein weißes Taschentuch. Er zündet es an, dicker weißer Rauch steigt auf und nach einer Weile beginnen die hell gelben Bruchstücke der Äste zu brennen. Er denkt nach, wie er den Waldboden zum Schlafen weicher machen kann. Er zieht das Tauchermesser aus der Scheide und schlägt die Äste einer am Ufer stehenden Tanne ab. Dann schichtet er diese zu einer Matratze auf. Zum Schluss polstert er alles mit aufgesammelten Kiefernadeln.
Mira ist begeistert, wie gemütlich die Schlafgelegenheit aussieht und stellt fest, dass das Naturbett wunderbar frisch nach Kiefern duftet.
„Es war doch richtig den Schlafsack mitzunehmen?“, will Mira von Léon bestätigt wissen und erinnert ihn an seine Rede.
Als das Feuer lichterloh brennt, zieht Mira ihre Sachen aus. Der Lichtschein des Feuers teilt ihren Körper in Licht und Schatten. Sie kriecht in ihren Schlafsack und rafft ihn über ihre Ohren.
„Léon“, sagt sie, während er in das Feuer starrt.
„Ja.“
„Es ist unheimlich hier. Wieso habe ich das Gefühl, dass wir beobachtet werden?“, fragt sie bedrückt.
Er kommt auf Mira zu und beugt sich über sie.
„Blödsinn? Niemand ist hier“, sagt Léon mit gleichmütiger Stimme.
„Durch das Feuer sind wir von weitem zu sehen und manchmal hört man es im Gebüsch knacken.“
„Du weißt besser als ich, dass hier im Wald Tiere leben, und die machen nunmal Geräusche“, versucht er ihr die Angst zu nehmen, während er wieder in das Feuer starrt.
„Du hast recht, vor Tieren habe ich keine Angst, aber vor Menschen.“
Dann geht er zum Wasser und betrachtet den Mond, der sich schemenhaft im Wasser spiegelt.
„Mir ist es lieber, wenn du zu mir kommst“, fordert Mira ängstlich.
Er schaut sie an, wie sie sich immer tiefer einkuschelt.
„Die Tiere machen einen Bogen um uns. Die haben mehr Angst vor uns, als wir vor Ihnen“, beruhigt Léon sie.
„Trotzdem, ich möchte dass du zu mir kommst“, sagt Mira und ihr Ton wird bestimmter.
Léon hockt sich zu ihr.
„Was wird Sharki dazu sagen?“, fragt Léon sie.
„Was hat der damit zu tun?“, stellt sie die Gegenfrage.
„Ich will mich an deine Nähe erst gar nicht gewöhnen!“
Léon hofft, dass sie versteht, was er damit sagen will.
„Sharki ist mein Bruder“, klärt sie ihn auf.
Wie ein Blitz durchfährt es Léon. Plötzlich knackt es zwischen den Bäumen. Er tritt aus dem Feuerschein heraus, kann aber in der Finsternis nichts entdecken. Da er nach einer Weile nichts mehr hört, zieht er sich aus und rutscht zu ihr in den Schlafsack. Er ist überrascht, wie warm es neben ihr ist. Er dreht sich auf die Seite und schaut in den Wald. Sofort kuschelt sie sich an seinen Rücken. Ihre Hand fährt über seinen Körper und Léon spürt, wie sie ihn erregt. Mira dreht ihn sanft aber fordernd um. Er schaut ihr in die Augen, in denen sich das Licht des Feuers spiegelt. Sie nimmt Léons Hand und legt sie auf ihre seidenweiche
Taille.
„Mir kommt die Fahrt wie ein Traum vor. Geht es dir auch so?“, will sie mit weicher Stimme wissen.
„Nein, nur als wir oben auf dem Schiffshebewerg standen, da habe ich an einen Traum gedacht.“
„Was war das für ein Traum?“
Nur zögerlich beginnt er zu erzählen: „Ich träumte von einer Kanufahrt an einem Bergkamm in den Alpen.
„An einem Berghang?“, fragt Mira ungläubig.
Immer noch ist Léon von der Sanftheit ihrer Stimme
überrascht, die er jetzt dicht an seinem linken Ohr wahrnimmt. Dann erzählt er weiter: „Nein, an einem Bergkamm. Der Traum beginnt damit, dass ich mich dicht unter einem Gipfel eines Berges befinde. Hoch auf einer Alm und dort sollte ich in ein altes Indianerkanu steigen. Ich sah den steilen Hang der ins Tal führte. Auch sah ich einzelne Schneefelder und weiter tiefer war ein Fichtenwald. Wasser war nirgends, nur die saftige grüne Wiese. Das Kanu lag an einem Holzsteg. Es saßen sechs Leute darin. Obwohl ich nicht verstehen konnte, warum das Kanu nicht abrutschte, stieg ich ein. Dabei brach ein Stück Holz von der Kante ab und ich sah, wie morsch es war. Dann ein Gedränge. Hinter mir wollte noch jemand einsteigen, und ich konnte nicht mehr zurück. Ich setzte mich und schaute auf die grandiose Bergkulisse. Dann ging es auch schon los. Das Kanu glitt parallel am Hang entlang, wie man es für gewöhnlich mit Skiern macht. Plötzlich hatte es keinen Halt mehr, und wir rutschten ab. Wir stürzten in die Tiefe.“
„Oh“, sagt Mira.
„Dann fing sich das Kanu wieder, wir fuhren einen Kreis, um dann zur Absturzstelle zurückzukehren. Das geschah mehrmals und es war ein Gefühl wie in einer Achterbahn. Auf einmal drehte sich die Welt, immer schneller, bis ich aufwachte.“
„Es war so realistisch, dass es dir im Schlaf schwindlig wurde?“, fragt Mira, während sie ihn liebevoll berührte.
Léon schiebt seine linke Hand unter ihren Kopf, so dass sie sich in seinen Arm legen kann.
„Ja, es war so real wie gestern der Blick vom Schiffshebewerk“, antwortet Léon.
Mira macht die Augen zu.
„Weißt du, was der Traum bedeutet?“
„Nicht direkt. Ich glaube, dass der Traum mein Lebensgefühl zeigt. Ich sehe den Abgrund und stürze ab. Was mich beruhigt ist die Tatsache, dass sich das Kanu immer wieder fängt und es keinen Aufschlag gibt.“
Mira schlägt die Augen auf und schaut ihn an.
„Du meinst also, dass du zu gefährlich lebst?“
„Nicht unbedingt, aber ich versuche zu oft, riskante Ziele zu erreichen.“
„Was für welche?“
Léon rückt ein wenig von ihr weg, um ihr in die Augen sehen zu können.
„Das wechselt ständig. Im Moment jage ich einer Idee hinterher.“
„Deshalb sind wir hier, richtig?“
„Ja.“
Sie dreht ihren Kopf weg.
„Willst du mir sagen, was das für eine Sache ist?“
„Das ist ein Problem. Ich weiß nicht, um was es wirklich geht. Ich habe auf einem Stück Leinenpapier einen Hinweis auf ein Versteck bekommen und dort eine alte Karte gefunden. Das ist aber noch nicht alles. Ein Professor hat nach dem Krieg in der Ostsee nach Vineta gesucht und ist dabei auf mysteriöse Weise verschwunden. Sein Sohn, der vor Jahren ebenfalls nach der versunkenen Stadt suchte, wurde auf der Bird of Prey ermordet.
„Mein Gott! Der süße Geruch. Wir schlafen in einem Leichenboot?“, bringt Mira hervor, dabei läuft ihr ein kalter Schauer den Nacken runter.
„Das ist doch schon lange her, aber du hast recht. riechen tut es immer noch. Dann ist da noch eine alte Dame. Eine verbitterte Frau. Ihr adliger Vater hat das Schiff des Professors konstruiert und bauen lassen. Ihr Ehemann hat die Bird of Prey entworfen, aber auch er kam bei einem Autounfall ums Leben. Nun ist sie verwirrt. Für ihre Armut gibt sie ihrem Mann die Schuld und hasst ihn, weil sie durch ihn keinen Adelstitel mehr im Namen trägt.
„Die Frau empfindet keine Trauer für ihren toten Ehemann? Ein Mord, eine unaufgeklärtes Seeunglück, ein mysteriöser Autounfall“, wiederholt Mira und bekommt eine Gänsehaut.
„Alles an verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten, und dennoch hängt alles irgendwie zusammen, so wie die Bird of Prey und die Godewind verbunden sind. Mysteriös ist das. Alles trägt Johan von Bremens Zeichen“, erzählt Léon hilflos.
„Merkwürdig, seitdem ich auf der Bird of Prey lebe, habe ich das Gefühl beobachtet zu werden.“
Der Geist der getöteten Seele kommt ihr in den Sinn. Mira schaudert sich.
„Kein Wunder, die Marina ist voll mit Internetkameras“, erklärt Léon, ohne zu merken, woran sie gerade denkt.
Mira schluckt, während sie ihm in die Augen schaut.
„Jetzt willst du selbst nach der Stadt aus dem Mittelalter suchen?“
„Nicht direkt, Vineta gibt es nicht, ich will nur einen Hinweis mit Hilfe der gefundenen Karte prüfen.“
Mira streichelt ihm das Gesicht und berührt dabei seine Lippen.
„Keiner begeht einen Mord“, wirft Mira ein, „wenn nicht was zu holen ist. Obwohl es Vineta gegeben hat, kann es sich hier nicht um sie handeln. Man vermutet, dass eine Stadt in Polen einst Vineta war. Jetzt ist da sicher nichts mehr zu holen.“
„Du kennst dich aus.“
„Leider zu wenig, aber als Forscherin kann ich mehr in Erfahrung bringen“, sagt Mira selbstsicher, um Léon Hoffnung zu machen.
Dabei rückt sie noch näher an ihn heran.
„Was willst du dafür haben?“
„Nur, dass deine Hände mich berühren!“
Sie nimmt seine Hand von ihrer Taille und bewegt diese langsam über ihre sanfte Haut.
Léon übernimmt die Bewegung und ist so vorsichtig, als ob er nach glühenden Kohlen greifen würde. Dann spürt er den Ring an ihrem Busen. Sie schaut ihn von unten nach oben mit sanften Gesichtzügen an.
„Du bist eine ungewöhnliche Frau“, sagt Léon zu ihr.
„Ungewöhnlich oder merkwürdig?“, fragt sie ihn fordernd, während sie die Augenbraue hochzieht.
Léon überlegt, was er sagen soll und dann fällt ihm ein Zitat ein.
„Der Kulturphilosoph Egon Friedell parierte einmal das Gerücht, er sei homosexuell, mit der Bemerkung, das Normale sei doch schon unangenehm genug“, zitiert Léon, um sich aus dieser Situation zu winden.
Mira überlegt und spürt, wie vorsichtig Léon ist.
„Es tut nicht weh“, sagt sie, „ich spüre dich nur inten-siver.“
Aber Léon hört ihr nicht mehr zu. Er fühlt die Rundungen unter seinen Händen, die zarte Haut und das warme Metall an ihrem Busen. Immer wieder küsst er sie, während ihre erregten Körper sich immer mehr erhitzen und der kühlen Feuchtigkeit der Nacht trotzen. Wie in seinem Traum spürt Léon, wie der Halt der Erde nachgibt. Anstatt den Sturz zu fürchten, steigt er schwebend auf zu den Sternen, die ihn in dem Moment des Höhepunkts allseitig umgeben. Schließlich wird ihr Geist wieder klarer und obwohl sich immer mehr Nebelschwaden über dem Wasser ausbreiten und sie beide die sumpfige Landschaft als unwirklich empfinden, schlafen sie dennoch glücklich ein.
Tief in der Nacht wird Mira von einem knurrenden Geräusch wach. Sie versucht Léon zu wecken, indem sie ihn rüttelt. Es dauert bis er die Augen aufmacht. Er glaubt noch zu träumen, als er den diesigen Schleier sieht, der die Bäume einhüllt.
Ängstlich flüstert sie in sein Ohr:
„Léon, Léon wach auf, da ist irgendetwas Böses im Wald.“
Nur langsam nimmt Léon die Realität wahr, bis er endlich begreift, wo er ist. Dann hört auch er das Knurren, was ihm das Knochenmark gefrieren lässt. Ein Grollen voll von böser Wut nähert sich seinen Füßen. Wolfsgeschichten kommen ihm in den Sinn und blitzartig richtet er seinen Körper auf. Es dauert eine Weile, bis seine Augen den Dunst durchdringen können. Aber dann kann er ein Tier mit weißen Streifen erkennen, das sich tief gebückt über den Boden bewegt.
„Das ist ein Dachs“, flüstert Léon erleichtert.
Mira ist dennoch verängstigt, weil das Tier immer näher kommt.
„Sind die gefährlich?“
Léon schaut fragend zu ihr.
„Das weißt du besser als ich“, antwortet er verwundert.
Sie bleibt still, dann erklärt er ihr weiter:
„Wilde Tiere sind nur dann gefährlich, wenn sie Hunger haben oder sich bedroht fühlen. Da wir nicht auf seiner Speisekarte stehen, nervt ihn wahrscheinlich nur unsere Anwesenheit.“
Léon schaut wieder in Richtung des Dachses, der nun mit der erhobenen Nase, hoch in der Luft, zu schnuppern beginnt.
„Was immer das auch bedeuten mag. Wir warten einfach ab, ob er noch näher kommt“, flüstert Léon, um sich selbst zu beruhigen.
Während Léon das sagt, holt er gleichzeitig das Messer aus seiner Tasche hervor. Mürrisch schleicht das Raubtier um sie herum, nimmt den Kopf wieder vom Boden hoch und schaut sie mit seinen rot leuchtenden Augen an. Mira bleibt der Atem stehen, als sie die großen gefletschten Zähne sehen kann. Doch plötzlich scheint etwas anderes sein Interesse geweckt zu haben. Der Dachs trollt davon und verschwindet in der Dunkelheit der Nacht.
Da der Schlafsack durchnässt ist, ihre Hände kalt sind und Mira am ganzen Körper zittert, beschließen beide aufzubrechen. Es kostet sie Überwindung, in ihre feuchten, kalten Schuhe zu steigen. Am Ufer ist der Boden weich und der Geruch von fauligen Blättern steigt in ihre Nasen. Sie marschieren los und wieder müssen sie über Baumstämme klettern, was ihnen erschwert wird, da sie kaum etwas sehen können. Mit jedem Schritt knirscht der Waldboden unter ihren Füßen. Trotz der feuchten Kälte sind beide glücklich zusammen zu sein. Gestärkt durch den kurzen Schlaf der Liebe, arbeiten sie sich voran, bis Léon durch die Baumstämme ein loderndes Feuer sehen kann. Der Schein der Flammen taucht den Nadelwald in ein gespenstisches Licht. Weil Léon sich über die Richtung des Weges nicht mehr sicher ist, beschließt er mit ihr dort hinzugehen. Langsam näher kommend, sehen sie inmitten einer Gruppe von Männern eine Feuerstelle, in der mit infernalischer Hitze ein ganzer Eber am Spieß gart. Unaufhörlich tropft Fett über der rötlichen Glut, zischt und würzt die verrauchte Luft des Waldes. Der Rauch verbindet sich mit dem Nebel, welcher Mira beißend in die Nase steigt. Die Männer sind überrascht, als Mira und Léon aus der Dunkelheit in den Feuerschein treten. Nach einer wortlosen Begrüßung stellt sich heraus, dass es sich bei den Männern, um einen jungen Jäger, drei Forstarbeiter und einen Förster handelt, die den Eber von einem umgestürzten Baum befreien wollten. Mit gebrochenem Bein konnten sie ihn nicht laufen lassen und töteten ihn kurzer Hand, um ihm weiteres Leid zu ersparen. Der Jäger erklärt ihnen, dass sie noch zwei Stunden vom nächsten Ort entfernt seien. Auch, dass überall der Strom ausgefallen ist, was das Einfrieren des Ebers unmöglich macht, wird ihnen mitgeteilt. Damit er nicht verdirbt, haben sie ihn gleich aufgespießt.
Als die Männer hören, was mit der Bird of Prey passiert ist, lädt sie der Jäger zur fleischigen Mahlzeit ein. Mira und Léon genießen die Wärme des Feuers, die sie wohltuend durchströmt. Sie erfahren von dem Jäger, dass der Notstand für Brandenburg ausgerufen worden ist.
„Wo soll es denn hingehen?“, fragt der Förster.
„Nach Vineta“, antwortet Léon trocken.
„Dann vergesst das Zahlen nicht!“, amüsiert sich der Förster.
„Wozu?“, fragt Léon keck.
„In Vineta leben Händler, die bieten ihre Waren an. Kauft ein Fremder bei ihnen, so wird die Stadt für immer aus den Fluten emporsteigen.“
Leon rutscht auf dem umgefallenen Baumstamm hin und her. Er versucht es sich bequem zu machen, hört dem Förster aber aufmerksam zu.
„Das ist alles?“
„Ja, alles.“
„Nicht ganz“, sagt ein Forstarbeiter. „Um die Stadt zu erlösen muß der Auserwählte einen Titel im Namen tragen, nur dann kann die Stadt von dem Fluch befreit werden.“
Was für einen Titel überlegt Léon. Adels-, Doktor- oder Meistertitel. Diese Überlegung behält er aber für sich.
„Dazu muss man die Stadt erst finden, oder gibt es einen geographischen Hinweis in der Sage?“, fragt Léon stattdessen frech.
„Wenn, dann würden wir jetzt nicht hier sitzen und eine Sau rösten, sondern wären vor Ort, um nach ihr zu suchen“, lacht der Förster wieder.
„Geschichten aus Sagen und Märchen erzählen von vergangenen Zeiten. Die sind doch nicht real“, brummt der Jäger.
„Nicht unbedingt. Jacob und Wilhelm Grimm sagten einmal: Das Märchen ist poetischer, die Sage historischer“, zitiert Mira.
„Nur was ist in unserem Fall historisch?“ überlegt Léon vor der Runde.
Die Männer staunen, haben aber darauf keine Antwort.
Er bemerkt, wie die Ereignisse in Mira arbeiten und erst als ihr ein Waldarbeiter süßen Glühwein zum knusprigen Fleisch bringt, verschwinden ihre kriminalistischen Gedanken. Beide ruhen sich sitzend auf einem Baumstamm aus. Gegen Geld erhält Léon von den Waldarbeitern eine schwere Axt, bevor sie den mühsamen Rückweg in der Morgendämmerung antreten.
Sie brauchen den ganzen Tag, um die Bird of Prey zu finden. Endlich angekommen, überraschen sie Flocke, wie er mit dem Bowiemesser einige Äste zu entfernen versucht. Léon springt aus dem Wald und hält die Axt hoch.
„Nimm das!“, ruft er zu Flocke rüber.
Flocke dreht seinen Kopf in Richtung der Waldläufer.
„Wird ja auch Zeit, dass ihr wieder auftaucht. Stinger wurde schon ungeduldig. Wir haben schon überlegt, euch suchen zu gehen“, schnattert Flocke über das Deck.
Léon klettert auf den umgestürzten Baum.
„Warum habt ihr es noch nicht getan?“
Flocke sucht nach einer Antwort.
„Wir wussten, dass du Mira dabei hast. Da konnte dir nicht viel passieren.“
Und das war für Mira das Netteste, was sie von Flocke bisher gehört hatte.
Stinger kommt aus seiner Kajüte.
„Wie sieht es in der Welt aus?“
„Eine Menge Leute müssen ihre Autos, Gärten und Häuser von Bäumen befreien“, spricht Léon durch die Blätter des umgestürzten Baumes.
„Und wir unser Boot“, ergänzt Mira.
„Dann mal her mit der Axt, wir haben noch eine Aufgabe zu erledigen“, sagt Flocke, der schon ungeduldig auf das Werkzeug gewartet hat.
„Nur gut, dass sich wenigstens die beiden ausruhen konnten. Ich für mein Teil bin todmüde und brauche Schlaf“, gähnt Léon in Richtung von Mira.
Er geht in seine Kajüte, in der Gewissheit, dass Flocke und Stinger die Bird of Prey von dem Baum befreien werden. Flocke schnappt sich sofort die Axt. Mit kräftigen Hieben schlägt er die Äste ab. Stinger packt zu und beginnt das Gehölz von Bord zu werfen. Mira balanciert über die Stümpfe und geht unter Deck. Auch sie ist müde und legt sich leise zu Léon, der die Axthiebe nur noch in der Ferne hört.

 
Kapitel 13: Die Abmachung Teil  3