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Kapitel 18

Das Haus Wiek


In der Nacht treffen Stinger, Flosse und Léon im
Yachthafen in Rostock ein. Das Wasser dampft. Ein zu Ende gegangener Regenguss lässt die Reling der Bird of Prey glänzen. Dicke Wassertropfen perlen vom schwarzen Rumpf der Yacht.
Flocke ist mit dem Verstauen der Verpflegung beschäftigt, da hört er Stimmen, die über den Steg näher kommen.
„Gutes Timing. Meine Jungs sind gerade weg“, sagt Flocke zur Begrüßung, „Wenn ihr die Getränke unter Deck schafft, können wir ablegen.“
„Wird gemacht, Bootsmann.“
Léon nimmt zwei Paletten mit Coladosen in die Hand.
„Hast du das Seeventil repariert?“, fragt Leon.
„Sicher, das war nicht schwer. Die Hurensöhne haben einen Schraubendreher hineingestopft. Es war leicht ihn wieder herauszuziehen.“
Léon steckt den Bootsschlüssel in das Zündschloss und startet den Anlasser der Maschine. Das kalte Nageln des Diesels ist zu hören. Kühlwasser beginnt durch die Abgasöffnung in die See zu plätschern. Flosse nimmt die Steuerbordleine vom Poller und lässt diese ins Wasser klatschen, da beginnt die Yacht aus der Box zu treiben.
„Was ist mit Mira?“, will Flocke neugierig wissen, während er gleichzeitig die Vorderleine aufschießt.
Léon wundert sich, auch er scheint sie zu vermissen.
Flosse und Stinger unterbrechen ihre Arbeit, um die Antwort von Léon zu hören.
„Sie kann nicht!“, er legt den Rückwärtsgang ein, schaut nach hinten und gibt ihnen zu verstehen, dass er nicht darüber reden möchte.
„Hast du den Wetterbericht?“, erkundigt sich Flosse, das Thema wechselnd.
„Na klar! Rasmus ist uns gut gesonnen. Gewitterböen und sieben bis acht Windstärken aus Nordost. Damit werden wir direkt nach Hiddensee geblasen.“
„Dann los, wir haben keine Zeit zu verlieren!“, erinnert Stinger ihn und nimmt die Persenning vom Großsegel. Flocke schaltet für die Nachtfahrt die Positionslichter ein.
Kurz darauf segelt die Bird of Prey mit Wind von Backbord an der beleuchteten Küste von Rostock vorbei und hält Kurs auf die Nordspitze von Hiddensee. Der Himmel ist bedeckt, und wie im Wetterbericht angekündigt schiebt der starke Wind die Bird of Prey seitlich vor die Wellen. Léon legt einen Kurs von 35° Ost an, dabei hebt und senkt sich der Bug und der Rumpf legt sich auf die Seite. Ein Fischerboot begleitet die Yacht, bis sich die Lichter als glitzernde Punkte am schwarzen Horizont verlieren. Tagsüber, noch immer im Turnierfieber, trimmt Stinger die Segel so genau, als wenn es ein Stechen mit einem anderen Boot zu gewinnen gibt. Aber weit und breit ist kein Schiff zu sehen, selbst Frachter, die diese Route öfter befahren, bleiben im Verborgenen und lassen die Bird of Prey ungesehen gegen Osten ziehen. Erst als nach Stunden Blitze den Horizont säumen, lässt Léon die Rettungswesten anlegen.
„Was ist mit Mira? Wieso kommt sie nicht mit?“, verhört Flocke Léon, um seine Neugier zu befriedigen.
„Sie hat in Miami einen Job und der ist ihr wichtiger als alles andere“, antwortet Léon, der seit Stunden wortlos hinter dem Steuerrad steht.
„Ich kann es einfach nicht glauben. Ist sie so karrieresüchtig, dass sie sich das hier entgehen lässt?“, brummt Flocke verständnislos. „Was ist mit uns? Wir sind doch ihre Freunde.“
„Keine Ahnung, was in Frauen so vorgeht“, antwortet Léon und übergibt ihm stumm das Ruder.
Als Stinger die zweite Nachtschicht übernimmt, ist es finstere Nacht. Kein Stern am Himmel, dunkle Wolken und nur ein Leuchtfeuer ist in der Ferne zu erkennen. Flosse schaut auf seine Uhr. Dann stoppt er die Pausen zwischen den Lichtphasen und vergleicht die Kennung mit den Angaben aus dem Leuchtfeuerverzeichnis. Er stellt fest, dass sie den Leuchtturm von Hiddensee vor sich haben.
„Weck Léon!“, befiehlt Flocke Flosse.
Das hat Léon gehört. Er schlüpft von selbst aus seiner Koje.
„Wir gehen gleich auf Kurs Vineta“, bestimmt Léon den Niedergang hochkommend.
Sofort nimmt Flosse die Schotleine der Genoa in die Hand, während Léon das Manöver einleitet.
Mit laut flatternden Segeln dreht der Bug durch den Wind. Das Schiff richtet sich auf, dann stellt sich eine ungewohnte Ruhe ein. Sanft von den Wellen getragen, fällt der Wind nun von achtern ein und bläht die beiden Segel auf. Mit dem Wind segelnd, spüren die Vier an Bord kein Lüftchen, nur das gurgelnde Wasser am Heck macht die Fahrt des Schiffes sichtbar. Als die Konturen der Küstenstreifen von Rügen und Hiddensee deutlicher werden, schaltet Léon das GPS Gerät ein. Das Display beginnt zu leuchten und lässt Léons Gesicht in der dunklen Nacht gespenstisch wirken. Noch bevor Léon den Kurs neu bestimmen kann, sieht Flocke in der Ferne ein ungewöhnliches Licht.
„Seht, das Wasser glüht“, flüstert Flocke.
„Wo denn?“, fragt Léon aufschauend.
„Direkt voraus“, antwortet Flocke wieder leise, so als ob er es nicht verscheuchen wolle.
Alle schauen in die Richtung seiner ausgestreckten Hand.
„Meeresleuchten, ich kann es sehen“, sagt Flosse.
„Fluoreszierendes Plankton, hier, unmöglich“, versucht Léon ihnen zu erklären.
„Es ist genau da, wo wir hinwollen“, stellt Stinger entsetzt fest.
„Um uns den Weg zu zeigen, wurden in Vineta die Strassenlaternen angezündet“, scherzt Flocke, Léon schmunzelt.
Je näher sie kommen, umso stärker wird das Licht unter Wasser. In grünblauen Farben schimmert es aus der Dunkelheit der Tiefe herauf. Es bewegt sich hin und her, Léon lässt Stinger das Vorsegel bergen. Langsam und geräuschlos pirscht sich die Bird of Prey nur mit dem Hauptsegel an das Leuchten heran. Als Léon das Boot direkt über das Licht steuert, sehen alle in die blaugrün schimmernde Tiefe.
„Taucher“, sagt Stinger aufgeregt.
Da dreht Léon die Bird of Prey spontan bei. Hastig wird das Groß eingeholt, da kramt Flosse auch schon seine Walter 38 hervor.
„Die schnappen wir uns“, ruft Stinger den anderen wie ein Wilder zu.
„Die haben vielleicht wieder Harpunen dabei“, gibt Flocke zu denken.
„Mag schon sein, aber jetzt können wir sie überraschen und die Sache ein für alle mal klären!“, fordert Stinger und jeder spürt, dass er schon lange auf diesen Moment gewartet hat.
Anker ist drin, zeigt Flocke per Handzeichen an.
„Zwei Lichtkegel, zwei Typen“, stellt Stinger fest.
Seid auf der Hut!“, warnt Flosse die anderen. „Du nimmst die Jungs in Empfang!“, bestimmt Flosse und reicht Flocke die Pistole.
Kurz darauf gleiten Léon, Stinger und Flosse vorsichtig ins Wasser. Ohne Lufttanks, nur mit Tauchballausrüstung und Kabelbinder schwärmen sie auseinander, um gleichzeitig von drei Seiten in die Tiefe zu tauchen. Dem Licht näher kommend, sehen sie, wie zwei Taucher dicht über dem Grund schweben. Gemeinsam stürmen sie mit Spurtgeschwindigkeit auf die beiden los. Als einer von ihnen nach der Harpune greifen will, wird er auch schon von Stinger herumgerissen. Blitzschnell reißt er dem Taucher das Mundstück aus dem Mund und macht einen Knoten in den Atemschlauch. Zappelnd ringt der Überwältigte nach Luft. Dabei löst sich die Beinprothese und Stinger sieht, wie diese abgeknickt im Anzug hängt. Er bindet dem Bewusstlosen die Arme zusammen. Füllt mit dem Inflator Luft in die Tarierweste und lässt das Paket aufsteigen. Völlig überrascht sieht sein Partner zu, wie eiskalt sein Kollege überwältigt wurde. Er hebt die Arme, als er spürt, dass auch er Besuch an seiner Seite hat. Stinger taucht dem Auftreibenden hinterher und beginnt ihn an der Wasseroberfläche zu beatmen. Er schiebt ihm das Mundstück in den Mund und presst dem Ohnmächtigen Luft mit der Luftdusche in seine Lungen. Dann holt Stinger mit der flachen Hand aus und klatscht ihm diese ins Gesicht. Halbtod und spuckend kommt der Fremde zu sich, da packt Stinger die Taucherflasche und zieht ihn zum Heck der Bird of Prey. Auch Léon, Flosse und der zweite Gefangene werden von Flocke empfangen. Stinger schneidet die Fesseln wieder auf. Mit der Pistole zwingt er einen nach dem anderen die Ausrüstung abzulegen. Um schnell Hilfe zu holen feuert er eine rote Signalrakete ab. Der Prothesenträger schraubt sein Kunststoffbein ab und schmeißt es mit einem Poltern auf die Badeplattform und wuchtet sich an Bord. Nur mit Neopren bekleidet führt Flosse beide unter Deck, um sie an der Maststütze anzubinden.
„Das wäre geschafft! Humpelfix und sein Glatzköpfiger Kollege!“, triumphiert Flocke, und in diesem Moment wird es auf dem Deck taghell.
Ein mächtiger Suchscheinwerfer strahlt durch den Niedergang hinein. Dann spricht eine Stimme durch ein Megafon.
„Hier spricht der Kapitän der „Polarfuchs“, brauchen sie Hilfe?“, schallt es durch den Raum.
Sofort winkt Léon das Schiff herbei. Flocke und Stinger werfen zwei Leinen über die Bordwand des Forschungsschiffes und Flosse zeigt mit der ausgestreckten Hand seinen Polizeiausweis. Nach ein paar Worten werden die Gefangenen an den Kapitän übergeben.
Kurz darauf legt die Polarfuchs wieder ab, um sie der Küstenwache zu übergeben. Die Crew der Bird of Prey ist wieder allein. Erschöpft und müde beschließen die vier an Ort und Stelle zu bleiben.
Früh am Morgen wird ihnen über Funk von der Küstenwache das Tauchen untersagt und die Freunde machen sich unverrichteter Dinge auf den Heimweg.
Am selben Tag wird eine Bannmeile gezogen. Bis auf einen schmalen Korridor für die Berufsschifffahrt wird das ganze Seegebiet gesperrt. Immer mehr Spezialisten treffen vor Ort ein und bei einer Sitzung des Archäologischen Instituts in Kiel wird beschlossen, dass keine Artefakte an die Wasseroberfläche gebracht werden dürfen. Die Ruinen sollen nur von Sand und Schlamm befreit werden.
Zwei Tage später wird eine Bergeplattform herbeigeschafft. Ihre Besatzungsmitglieder teilen das Gebiet in Zonen ein, stellen Technik und Arbeitsgerät bereit. Die Grabungsstätte unter Wasser wird mit Orientierungsleinen eingerichtet. Immer größere Forschergruppen treffen ein, um Mauerreste mit Saugrohren in Wochen langer Kleinstarbeit freizulegen.

Jede Woche erhält Léon Unterwasserbilder, welche die Auferstehung Vinetas auf dem Grund der Ostsee dokumentieren. Diese vergleicht er mit den Unterlagen von Prof. Dr. Sander und sendet sie nach Miami. Mira erkennt den Zeitpunkt zum Handeln und bietet ihren Forscherkollegen die Hilfe der gesamten Tauchballmannschaft an, denn sie weiß, dass sie zum beseitigen von Sand jede Hilfe gebrauchen können.

Zwei Monate nach Beginn der Ausgrabungen macht sich Léon mit Flosse, Mani, Basti, Flocke, Deckel, Knorki, Frank, Krake, Stefan, Günther, Boris, Fisch und Stinger wieder auf den Weg zum Yachthafen Hiddensee. Gemeinsam beladen sie die Bird of Prey mit Werkzeug, Schlafsäcken und Taucherausrüstungen. Vom Hafen aus nimmt Léon direkten Kurs auf das Haus Wiek. Als sie sich dem Gebiet der Ausgrabungsstätte nähern, hat sich alles verändert. Überall schwimmen Markierungsbojen im Wasser. Über Funk lässt sich Flosse die Genehmigung geben, das Gelände zu befahren. Als Willkommensgruß wird eine grüne Leuchtkugel abgefeuert.
Unter Wasser hat das Forschungsteam ganze Arbeit geleistet. Fast jedes Haus wurde mit nummerierten Bojen gekennzeichnet und schon beim Näherkommen lässt sich die ringförmige Anordnung der Wege gut erkennen. Dort wo einst die drei Ringe der Festungsmauer standen, sind diese nun an der Wasseroberfläche mit Schwimmleinen gekennzeichnet. Vorsichtig steuert Léon die Bird of Prey durch eine Unterbrechung der Leinen und mit Hilfe der Rekonstruktionszeichnung, kann er sich dem Haus Wiek wie mit einer Straßenkarte nähern. Überrascht starrt Léon auf den GPS Plotter und ruft die Mannschaft herbei. Hinter dem Steuerrad zusammengedrängt beobachten sie gespannt wie sich die Bird of Prey einem roten Wegpunkt im Zick- Zackkurs auf dem Display nähert. Léon erinnert sich. Er hat die Koppelstrecke selbst einprogrammiert und sie landen dort in der Nähe, wo er beim Tauchen das Geldstück abgelegt hat.

Beim Abschnitt 41 wendet Léon die Bird of Prey. Langsam schiebt sich das Schiff mit dem Bug voraus an die Boje heran. Mit dem Bootshaken fischt Krake die rote Kugel. Stinger bückt sich über die Reling und hängt mit der linken Hand am Schiff. Er greift das Auge und fädelt die Festmacherleine hindurch. Als er das Ende belegt, beginnt die Bird of Prey zu schwojen. Léon stellt den Motor ab und das Brummen des Diesels stirbt. Gespannt setzen sich alle auf die Bänke im Cockpit, damit Léon die Lage, wie bei einer Mannschaftsbesprechung zusammenfassen kann.
„Also, wir wissen, wonach wir suchen. Die Forscher glauben, es geht nur um die Ruinen, denn Flosse und seine Kollegen haben den Forschern noch nicht alles mitgeteilt. Aber es geht um mehr. Mira hat es aus den Berichten heraus gelesen. In Vineta gab es eine Bank. Vielleicht die erste, die es je gegeben hat. Und wir…, wir suchen den Tresor! Den Berichten zufolge wurde alles von Wert in einem Erdloch unter dem Haus Wiek aufbewahrt. Es wurden schon einige Räume vom Sand befreit, aber den Zugang zum Erdloch hat noch niemand entdeckt. Deshalb sind wir hier!“
Daraufhin stehen alle auf und machen sich daran ihre Tauchausrüstung zusammen zu suchen. Kurz darauf fliegen im hohen Bogen zahlreiche Taucherflaschen über Bord. Der Reihe nach springen sieben Spieler ins Wasser, machen eine Rolle und schlüpfen in ihre Jacketts. Nun sind alle bereit und Flocke gibt das Zeichen abzutauchen. Schon nach wenigen Metern sehen sie, was die Forschungstaucher geleistet haben. Wände aus geklopften Steinen, Wege und Bodenplatten aus Marmor wurden freigelegt. Dazwischen sind Flächen metertief abgesackt, was sich keiner so recht erklären kann. Flocke macht eine kreisende Bewegung mit dem Finger und signalisiert den anderen, dass sie die Suche beginnen sollen. Acht Meter über dem Grund schwebt Léon über den historischen Resten von Vineta. Wie auf der perspektivischen Rekonstruktionszeichnung von Prof. Dr. Sander erkennt er die ringförmige Anordnung der Stadtmauern und der Gebäude. Überall sind Reste von Häusern und Gassen zu erkennen, wo vor rund 850 Jahren Menschen wohnten und ihren alltäglichen Geschäften nachgingen. Knorki kann sich kaum von dem Anblick lösen, erst als er Stinger und Flosse in einem Gebäude verschwinden sieht, holt ihn die Zeit wieder ein. Daraufhin geht auch er tiefer und zwängt sich durch eine Öffnung, die vor langer Zeit einmal ein Fenster gewesen war. Am Boden ist ein Loch zu sehen und Flocke taucht darauf zu. Er sieht wie Lichter im Nebenraum aufblitzen. Stinger und Flosse sind in einen tiefer gelegenen Raum getaucht und leuchten mit ihren Lampen in eine Kammer hinein. Vorsichtig sehen sie sich um und an den aufsteigenden Luftblasen wissen sie, dass Mani noch tiefer vorgedrungen ist. Ohne Furcht schlüpft er durch Öffnungen und Spalten, bis ihm dicke Stangen aus Bronze den Weg versperren. Vor der Gittertür liegen im Sand halbvergraben zwei Skelette, die nur noch durch den Bewuchs der Rüstung zusammen gehalten werden. Mit der Lampe blinkt Mani Morsezeichen. Ohne den menschlichen Resten Beachtung zu schenken bahnt sich Stinger den Weg zur Bronzetür. Er leuchtet in einen runden Raum, der wie in einem Kamin zum höchsten Punkt des Gebäudes führt. Er gibt Knorki ein Zeichen, den Brenner von Bord zu holen. Minuten später leuchtet Stinger Léon an. Dieser greift mit der rechten Hand nach hinten und lässt sich von Knorki einen Magnesiumschneidbrenner aus einer Netztasche geben. Der Brenner zündet mit einem brodelnden Geräusch und Stinger hält die Flamme an das alte Metall. Geduldig warten die anderen, bis die dicken Stäbe glühend zerfließen und das Schloss aus dem Rahmen fällt. Der Brenner erlischt und auch diesen muss Léon halten. Stinger stemmt sich mit den Füßen an das Tor und lässt vor Anstrengung einen Schwall Luftblasen ab. Er zerrt mit aller Kraft daran, bis sich ein Spalt auftut, der ihnen Eintritt gewährt. Geschafft, denkt sich Léon, bisher war es leicht, nur wo ist der Schatz?
Kein Glänzen ist zu sehen, und alle beginnen hektisch im Sand zu wühlen. Die Sicht wird durch die Schwebteilchen immer schlechter und nach kurzer Zeit dringen selbst die starken Tauchlampen nicht mehr durch die dichten Schlieren. Sie sind gezwungen aufzugeben. Nur widerwillig will Stinger die Suche vertagen, aber Léon gibt ihm den Abbruch der Aktion mit einem Handzeichen zu verstehen. An der Wasseroberfläche angekommen, holt jeder erst einmal tief Luft. Flocke ist der Meinung, in der Ecke eine Fuge im Boden gespürt zu haben. Auch Léon ist dieser Spalt aufgefallen, den er für einen Riss gehalten hat. Der Reihe nach klettert jeder an Bord. Während Flocke seinen Neoprenanzug sauber an die Reling aufhängt, lassen die anderen ihre Anzüge einfach zum Trocknen auf dem Baum liegen. Mit Gläsern und einer Flasche Captain Morgan kommt Boris an Deck. Er stellt alles auf den Cockpittisch und schaut verstohlen in die Runde.
„Zu feiern gibt es noch nichts!“, murmelt Deckel betrübt.
„Aber auch nichts um Trübsal zu blasen!“, brummelt Frank zurück und kippt auf den Rum noch Cola obendrauf.
Einstimmig nehmen alle ihre Gläser hoch, nur Léon riecht erst daran, um dann das Mixgetränk mit einem Schluck im Rachen zu versenken.
„Morgen gehen wir wieder runter! Dann sehen wir uns die Fuge genauer an!“, das sagt Stinger so, als wenn er die Sache ein für allemal geklärt wissen will.
„Ich bin gespannt, was uns da unten erwartet“, meint Krake.
„Die Bronzetür war leicht zu öffnen und selbst im Mittelalter wäre sie nicht wirklich ein Hindernis“, spekuliert Knorki.
„Ich habe das ungute Gefühl, dass die eigentliche Sicherung der Wertsachen erst noch kommen wird“, überlegt Léon.
„Wie kommst du darauf?“, horcht Flosse auf, ohne wirklich eine vernünftige Antwort zu erwarten.
„Mir ist aufgefallen, dass das Haus Wiek als einziges Haus versetzt ist. Alle anderen Gebäude stehen im gleichen Abstand und im gleichen Winkel zueinander. Nur das Haus Wiek fällt da aus der Reihe. Es steht um 15° verdreht und dichter am Nachbarhaus als die anderen Häuser“, antwortet Léon.
Er holt einen Ausdruck der Rekonstruktionszeichnung aus seiner Koje. Auch auf dieser ist das Haus Wiek im Lageplan versetzt. Verblüfft schauen sich alle an.
Boris nimmt die Hand an sein Kinn und überlegt.
„Sie haben das Haus um etwas herum gebaut. Nur um was ist die Frage?“
„Um die Erdgrube“, sagt Mani, „ist doch klar“, und glaubt das Rätsel gelöst zu haben.
Er erntet aber nur einen gelangweilten Blick von Fisch.
„Eine Grube könnte man überall ausheben, dafür muss man ein Haus nicht aus der Reihe stellen“, widerspricht auch Boris.
„Darüber müssen wir uns nicht den Kopf zerbrechen! Morgen werden wir es sehen!“, beendet Léon das Gespräch und muss dabei vor Müdigkeit gähnen.
Es dauert nicht lange, da liegen alle Spieler in ihren Schlafsäcken an Deck, auf den Cockpitbänken, in den Kojen, auf dem Sofa und auf dem Boden im Salon. Keiner schläft sofort ein, jeder denkt daran, was sie morgen im Keller des Hauses Wiek vorfinden werden.

Am Morgen scheint endlich wieder die Sonne. Das Meer glitzert in allen Farben, und in der Ferne sehen sie die mächtige Arbeitsplattform der Forscher treiben. Per Funk teilt Flosse dem Personal mit, dass sie heute weiter tauchen, nur über die Fuge im Grund sagt er keinen Ton. Ohne Frühstück macht sich die halbe Mannschaft bereit. Krake und Knorki nehmen zusätzlich eine Taucherflasche als Reserve mit, während Flosse eine dünne Führungsleine über seine Schulter legt. Léon hängt sich einen starken Scheinwerfer an den Bleigürtel. Kaum sind alle im Wasser, gibt Flocke das Zeichen zum Abtauchen. Niemand interessiert sich jetzt für den grandiosen Blick über die Ruinenstadt, die durch die flirrenden Sonnenstrahlen aufzusteigen scheint. Mit kräftigen Flossenschlägen erreichen sie schnell die Bronzetür. Mit zwei Flaschen bestückt drückt Stinger die Tür noch ein Stück weiter auf. Einer nach dem anderen schwebt hinein in den runden Raum, der wie ein Kamin zur Decke führt. Flocke fordert die anderen auf, sich vorsichtig im Kreis auf den Boden hinzuknien. Er will das Aufwühlen von Schwebteilen vermeiden und sucht mit seiner Hand die Fuge. Dick wie ein Finger spürt er den Spalt, dann schiebt er den Sand langsam beiseite. Es ist kein Riss im Boden, sondern ein kreisrunder, von Menschenhand hergestellter Deckel. Er ist rund und so groß wie ein Wagenrad, also groß genug, um einen Menschen hinunter zu lassen. Schnell wird ihnen klar, dass diese Abdeckung nicht einfach zu heben ist. Knorki legt die zweite Flasche ab und macht sich mit Flosse auf den Weg nach oben, um ein Stahlseil von Bord durch den Kamin zu fädeln. Zehn Minuten später kommt Mani mit einem Brecheisen wieder. Das Stahlseil pendelt im Raum und wird von Léon an den Deckel geknotet. Flocke gibt das Zeichen und das Hebeseil spannt sich. Jetzt setzt Léon das Brecheisen an und versucht mit ruckartigen Bewegungen den Deckel vom Boden zu lösen. Plötzlich kommt der Deckel frei und beginnt am Seil hängend in die Höhe zu schweben. Mit dem Lichtkegel voran lässt sich Stinger kopfüber in das Loch gleiten. Die anderen folgen der Reihe nach. Eine Erdgrube erwartend blicken sie stattdessen in eine riesige Höhle. Das Licht der Taucherlampen richten sie in den weiten Raum. Sie ist hundertmal größer als die Höhle bei Hispaniola stellt Flocke fest und schaut dabei vertrauensvoll auf die Energieanzeige seiner neuen ‚Antares’ Tauchlampe. An der Decke hängen Stalaktiten und zeigen mit ihren Spitzen zu Boden. Drei Lichtkegel huschen an den Wänden entlang, erfassen Spalten und schroffe, zerklüftete Felsen. Stinger entdeckt unten einen Durchgang und will diesen erkunden. Beim Näherkommen entdeckt auch Flosse einen weiteren Gang, welcher so tief in das Labyrinth reicht, dass der Lichtschein das Ende nicht erfassen kann. Unentschlossen halten beide inne, bis Flocke das Zeichen gibt, sich in drei Gruppen aufzuteilen. Léon wartet auf Stinger und beide dringen in das Innere der Höhle vor. Immer wieder tun sich neue Gewölbe vor ihnen auf, von denen einige eingestürzt sind.
Vielleicht war es nicht nur ein Sturm der Vineta einst verschwinden ließ, denkt Léon, als er einen großen Haufen eingestürzter Marmorreste am Ende eines Tunnels betrachtet. Vineta wurde auf einer instabilen Höhle gebaut. Ein leichtes Beben könnte ebenso wie ein Sturm zum Untergang geführt haben.
Sie tauchen in tiefe Spalten hinein, und weitere Durchgänge führen in bizarre Räume aus weißen Felsen. Als Stinger die Orientierung verliert, wird Léon plötzlich klar, dass im Mittelalter kein Mensch ohne Atemgerät so weit vordringen konnte. Obwohl er gerne die Ausmaße der Grotte erforschen möchte, ist sich Léon sicher, dass sie am falschen Ort suchen. Gedankenblitze schießen ihm durch den Kopf. Es wird Léon klar, dass das Haus Wiek um den Höhleneingang gebaut wurde und deshalb aus der Regelmäßigkeit der Häuseranordnung fällt. Der Aufbewahrungsplatz für die Wertsachen konnte nur in Reichweite eines menschlichen Atemzuges liegen. Léon zeigt Stinger das Zeichen zur Umkehr, der willig darauf eingeht. Nur mit Mühe findet Léon das kreisrunde Loch des Einstiegs und die dritte Gruppe wieder. Anstatt aufzutauchen, zeigt Léon Stinger eine Reihe von Handzeichen. Léon nimmt seinen Lungenautomat aus dem Mund und kreist dann mit dem Zeigefinger. Sofort hat Stinger verstanden, dass er die Gegend in Reichweite eines Atemzuges absuchen soll. Schon kurz darauf kommt Stinger zurück, um Léon zu holen. Direkt neben dem Einstieg sind an einem spitzen Felsen Schleifspuren deutlich zu erkennen. Ein Seil hat eine feine Furche in den Kalkstein geschliffen und Léon ist klar, dass das Lager gegenüber liegen muss. Mit der vollen Leuchtkraft der Lampe leuchtet er zur anderen Seite hinüber und misst mit dem Auge siebzig vielleicht auch achtzig Meter. Für einen Taucher ohne Atemgerät zu weit, denkt sich Léon. Dann richtet er den Lichtkegel etwas nach unten und entdeckt einen mächtigen Stalagmit, welcher das Zentrum der Höhle markiert. Fasziniert schauen alle in die Richtung der spitzzulaufenden Säule. Wie ein Symbol aus einer anderen Welt steht dieser inmitten eines Gebirges kleiner Stalagmiten. Léon ist klar, dass nur ein geübter Apnoetaucher, der an einem Seil gezogen wird, den faszinierenden Fels mit nur einem Atemzug erreichen kann. Dieser Ort ist sicher, in jedem Fall für einen normalen Menschen zu weit, um eine größere Menge des Schatzes zu stehlen. Ohne Unterwasserlampe war es für einen Dieb zu dunkel, um das Gold, Silber und die Mengen von Bernstein fortbringen zu könnten. Plötzlich fällt grünliches Sonnenlicht von oben in die Höhle ein. Boris und Stefan können durch die auftreibenden Luftblasen eine weitere Öffnung entdecken. Mühsam legen sie zahlreiche tauchballgroße Löcher frei.
Was konnte für die damalige Zeit sicherer sein, als ein Lager unter Wasser, das nur mit Hilfe von direkt einfallendem Sonnenlicht zur Mittagszeit gefunden werden konnte, denkt Léon.
Als Stinger und Léon sich dem wunderbaren Stalagmit nähern, erkennen sie unendlich viele kleine Terrassen im Stein. Menschen haben kleine Ablagen in den Fels gearbeitet und Reichtümer dort sauber abgelegt. Mit dem Tauchermesser wird gekratzt und geprüft, ob Gold oder Edelsteine vor ihnen liegen. Aber nicht nur das. Unter jedem Ablagefach ist eine Nummer in griechischer Sprache eingeritzt und Léon wird klar, was er dort sieht, ist nicht nur ein Schatz, sondern das älteste Bankhaus mit einer Art Schließfachsystem. Säuberlich getrennt liegen von kleinen Muscheln überwachsene Goldstücke, Perlen und Edelsteine von vielen verschiedenen Händlern nebeneinander. Nur schwer können sich Stinger und Léon von diesem gewaltigen Anblick trennen. Erst als Léon vor dem Anblick von schimmerndem Bernstein die Luft ausgeht, fordert er die Spieler zum Auftauchen auf.
Kaum sind sie an der Wasseroberfläche angekommen, da reißt sich Stinger seinen Atemregler aus dem Mund und er schreit seine Begeisterung in Richtung Himmel.
„Man Léon, was haben wir da entdeckt?“, ruft Stinger in die Taucherrunde.
Völlig überwältigt bringt Léon keinen Ton hervor. Er schwimmt zur Bird of Prey, wuchtet seine Ausrüstung auf die Plattform, setzt sich hin und versucht zu begreifen, was das für sein Leben bedeuten mag. Auch die anderen kommen der Reihe nach an Bord und klopfen sich gegenseitig auf die Schultern. Es braucht eine Weile, bis sich alle wieder sammeln und normale Gedanken fassen können, da sehen sie wie die „Polarfuchs“ auf die Bird of Prey zuhält. Über Funk kann Flosse das Nötigste klären und ein Boot der Küstenwache wird zum Schutz der Grotte angefordert. Nach drei Tagen auf See ist für die Mannschaft vor Ort nichts mehr zu tun und die Freunde beschließen den Fund und den Titel der Deutschen Meisterschaft mit einer Party gebührend zu feiern.

Als Monika Sander von der Sensation hört, lässt sie es sich nicht nehmen, die Mies van der Rohe Villa am Griebnitzsee für die Feier herzurichten und verspricht Léon, nach Babelsberg zu kommen, um bei dieser Gelegenheit ihr Elternhaus sehen zu können. Drei Wochen später trifft sie ein, da ist die Feier bereits im vollen Gang.
Gerade als Stinger den mit Sekt gefüllten Pokal an Léon mit den Worten weiterreicht:
„Es schmeckt gut nach einem gewonnenen Turnier“, steht plötzlich Frau Sander mit Mira in der Tür.
„Du bekommst Besuch!“, klopft Flocke Léon auf die Schulter und zwinkert mit dem rechten Auge. „Wie verführerisch sie aussieht“, schiebt er beim Gehen hinterher, als wenn er doch etwas für Frauen übrig hat.
Léon dreht sich um, und Mira steht in einem gelben Kleid vor ihm. Gebannt schaut Léon sie an, und nur langsam reicht er den sektgefüllten Pokal an Krake weiter.
„Hi“, bringt Mira hervor, „kennst du mich noch?“
„Natürlich, du hast ein Pferd und das willst du jetzt holen?“, antwortet Léon rasch und doch ein wenig verbittert.
„Falsch!“, erwidert Mira. Dabei schaut sie ihn an und versucht tief in seine Seele zu schauen.
„Warum bist du dann gekommen?“
„Weil du mir mehr fehlst, als ich wahrhaben wollte“, gibt Mira mit Schuld erstickter Stimme zu.
„Warum bist du dann nicht schon früher gekommen?“
„Ich wollte wissen, was in mir steckt.“
„Weißt du es jetzt?“
„Ich weiß, dass ich dafür nicht weit weg fahren muss, um es zu erfahren“, bekennt sie kleinmütig.
„Wie kann ich mir da sicher sein, dass du morgen noch da bist, wenn ich nach Hause komme?“
„Ich habe dir Diego anvertraut. Jetzt musst du mir vertrauen“, antwortet Mira hoffnungsvoll.

 

- Ende -