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Kapitel 4

Mira


Auch in Berlin ist es Ende August sehr heiß. Das Wasser im Edelstahlbecken verspricht Abkühlung. Mit einer Taucherbrille auf dem Gesicht und Flossen an den Füssen springt Léon mit einem weiten Kopfsprung in das kristallklare Nass. Sein Körper wird schlagartig abgekühlt, was Léon als schrecklich schönes Erlebnis empfindet. Wie gewohnt taucht er zwei Bahnen, bis sich sein Körper an das kalte Wasser gewöhnt hat. Durch das Tauchen im Meer kommt ihm das Schwimmen im Becken mühelos vor. Leicht krault er sich in seinen Atemrhythmus. Nach wenigen Bahnen ersetzt das Lichtspiel der Sonnenstrahlen, welche sich tausendfach in den Metallwänden spiegeln, die Unterwasserwelt von Hispaniola. Gefangen von den Reflexionen schwebt Léon dicht über dem Grund. Er dreht sich in die Rückenlage, da entdeckt er eine Frau, die ohne Flossen, aber mit einer kleinen Schwimmbrille, im Kraulstil an ihm vorüberzieht. Gekonnt setzt sie zur Rollwende an und ihr makelloser Körper fesselt seinen Blick. Mit einer geschmeidigen Bewegung rollt sie ihren Rücken und ihre Beine zusammen, spannt dann alles wie eine Feder, bringt ihre Arme nach vorn und drückt sich kraftvoll mit einer halben Drehung von der Wand ab. Ihr Körper ist bis in die Fingerspitzen gestreckt. Alleine durch den Schwung gleitet sie durch das Wasser, bis erst die Beine und dann die Arme den Vortrieb übernehmen. Der Ablauf ihrer Bewegungen ist kraftvoll und kontrolliert, zugleich wirkt sie mit halb offenem Mund entspannt und es schaut lustig aus, wie die silbernen Luftblasen beim Ausatmen zwischen ihren schneeweißen Zähnen hervorperlen. Erst als sich ihre Blicke begegnen wird ihr S-Schlag schneller. Mühelos holt sie noch mehr Kraft aus ihren Muskeln, dabei legt sie weiter an Geschwindigkeit zu. Léon wendet sich von ihr ab und beendet die Begegnung, indem er, aus einem Traum erwachend, aus dem Wasser steigt.
Minuten später kommt auch sie mit einem Satz in die Hocke aus dem Wasser gesprungen. Wie von einem Luftzug berührt dreht sich Léon herum. Das Wasser perlt ihr von der glänzenden Haut. Nur wenig jünger als er selbst, an die sechsundzwanzig Jahre alt. Ihr ganzer Typ, ihr etwas dunklerer Teint, ihr dunkles, langes Haar und die braunrote Umrahmung ihrer sonst rosafarbenen Lippen lassen auf eine südländische Herkunft ihrer Eltern schließen. Wie eine zweite Haut, hat sich der Stoff ihres nassen Badeanzuges an ihren Körperrundungen festgesaugt. Fast unbemerkt greift sie nach hinten an ihren Po und zieht mit einem Handgriff den eingeklemmten Stoff hervor.
„Donna Maria“, hört sich Léon sagen, dabei schaut er sich augenzwinkernd zu den anderen Spielern um. Von Léon unbemerkt stellt sich Flocke neben ihn und spricht zu ihm wie aus einer anderen Welt.
„Erstaunlich, alle glotzen sie wie ein Wunder an“, meint Flocke pikiert.
„So angesehen zu werden, scheint sie zu lieben“, ist sich Léon sicher, als wenn er ein Experte in Sachen Frauen sei.
„Welche Kategorie?“, fragt Flocke mit gleichgültigem Blick und bereut auch gleich die Frage gestellt zu haben.
„Kategorie…? Rattenscharf!“, bringt Léon apathisch hervor, ohne den Blick von ihr zu lassen.
„Was will die bloß hier? Hier ist doch kein Laufsteg“, fragt Flocke etwas verständnislos.
„Frag’ sie doch selbst, sie kommt direkt auf dich zu“,
amüsiert sich Léon.
Weil Flocke nicht weiß, wie er auf sie reagieren soll, fürchtet er sich davor, dass sie ihn vor allen anderen Spielern ansprechen könnte. Dann macht sie einen Schritt mehr als erwartet und streckt Léon mit angewinkeltem Arm die Hand entgegen. Sie schaut ihm selbstsicher in seine weit aufgerissenen Augen, dazu stellt sie sich selbst mit ihrem Namen Mira vor. Léons Herz rast und seine Kehle ist wie zugeschnürt. Sie steht ihm zu nah und nichts sagend hält sie diesen Moment der Stille, bis sie sich endlich amüsiert nach dem BTV Trainer erkundigt. Léon ist erleichtert, als der Bann von ihr gebrochen wird und kann es kaum glauben, dass sie vorhat mitzuspielen. Ohne ein weiters Wort hervor bringen zu können, zeigt Léon mit ausgestrecktem Finger in die Richtung von Flocke und überlegt, was sie mit der Abkürzung BTV gemeint haben könnte. Sie dreht ihren Kopf, ohne Léon aus dem Blickwinkel zu verlieren und lässt Flocke wortlos entscheiden, ob sie mitspielen darf oder nicht. Der Übungsleiter nickt, ist aber nicht in der Lage, sie nach ihren spielerischen Fähigkeiten zu befragen. Er hält sie nur mit einer abwartenden Geste hin. Mit Überwindung wendet sich Flocke von ihr ab und beginnt unter Mühen sich auf die Einteilung der Mannschaften zu konzentrieren. Als Mira nicht sofort eingeteilt wird, verzieht sie schmollend das Gesicht, rollt gelangweilt mit den Augen und ahnt, dass sie an der Nase rumgeführt wurde. Anstatt beim Training der BTV Ligamannschaft ist sie durch den schelmischen Tipp ihres eigenen Bruders bei einer Freizeitmannschaft gelandet. Grübelnd steht sie verloren am Beckenrand.
Léon scannt Miras Maske und hätte es daran merken müssen, dass sie nicht zum ersten Mal Tauchball spielt. Diese Art der Bebänderung hatte Léon schon damals, bei den Tauchballspielern während des Tauchkurses, gesehen. Auch sein Kumpel hat ihr es nicht angesehen, dass sie diesen Sport schon länger betreibt als die meisten von ihnen. Dennoch wird Mira als Letzte eingeteilt, was sich schon bald als Fehler herausstellen wird. Schon bei Spielbeginn staunen die Männer nicht schlecht, dass sie als Frau das Anschwimmen um den Ball gewinnt. Schnell wird Léon klar, dass sie keine Hilfe braucht und durchaus in der Lage ist, alleine mit den Stürmern fertig zu werden. Als Torfrau tritt sie geschickt mit ihren Flossen nach dem Ball. Sie hält jeden Angreifer auf Abstand und sobald es doch einer schafft, an ihren langen Beinen vorbei zu kommen, wirft sie sich blitzartig mit dem Rücken auf den Eimer. Kommt ihr ein Angreifer zu nahe, schnappt sie mit den Händen nach dem Ball, reißt ihn mit voller Wucht aus des Gegners Hand, wirbelt herum und taucht davon. Dieses Training ist für alle eine Lehre, dass nicht nur Größe und Gewicht zählen, sondern auch Technik und Schnelligkeit. Nachdenklich steigen die Spieler aus dem Wasser. Unter der Dusche ist Léon schockiert, als er von Josef hört, dass er nicht unglücklich wäre, wenn Mira nicht mehr zum Training kommt. Ihm hat ihre Überlegenheit nicht gefallen, und er ist der Meinung, dass es ihm schon reicht, von Typen auseinander genommen zu werden. Aber von einer Frau ist ihm wirklich zu viel. Doch nicht genug. Im Foyer erklärt Mira der versammelten Mannschaft, dass sich einige Jungs nicht regelgerecht verhalten hätten. Sie meint, dass es nach VDST Regeln nicht erlaubt ist, den Korb beziehungsweise den Eimer anzufassen oder sich daran festzuhalten. Flocke ist entsetzt. Als wenn es nicht reicht, von dieser Frau eine Lehrstunde im Tauchball erhalten zu haben, werden sie jetzt auch noch bei der Einhaltung der Regeln belehrt. Dabei wird Léon klar, dass sie nicht die einzigen sind, die diesen Sport mit Leidenschaft betreiben. Mira ist nur dieses eine Mal gekommen und Léon hofft noch lange danach, sie eines Tages wiederzusehen.

Am nächsten Morgen wartet Léon auf Flocke. Als er seinen Gesang im Treppenhaus hört, räumt er schnell seinen Schreibtisch frei.
Mittlerweile kennt jeder im Haus den Sänger. Auch Léon würde dieses Markenzeichen vermissen, wenn Flocke eines Tages, wie alle anderen, die Klingel benutzt. Deshalb hat ihm Léon empfohlen, sich als Opernsänger zu bewerben, aber er möchte seine Lust am Singen lieber beim Hobby belassen. Er ist der Meinung, dass man ihn auf der riesigen Bühne nicht sehen würde, was Léon schlichtweg für eine Ausrede hält. Léon öffnet die Tür, und beide machen sich gleich auf den Weg nach Werder.

Seit Monaten arbeiten sie schon an der Bird of Prey. Das Unterwasserschiff hat Léon abgeschliffen und neu gestrichen. Kratzer am Rumpf wurden von Flocke ausgebessert. Alle Decksbeschläge hat Léon demontiert und instandgesetzt. Auch unter Deck ist viel geschehen. Technische Einrichtungen, wie Heizung, Beleuchtung, GPS, Alarmanlage, Plotter und Kompass, sind erneuert worden und ein Teil der Inneneinrichtung hat Léon wieder eingebaut. Da sich alle elektronischen Instrumente wieder eingefunden haben, konnte Léon die noch intakten Geräte mit Kabeln verbinden und in Betrieb nehmen. Gemeinsam überholte er mit Flocke den Einbaudiesel, sie wechselten die Schläuche in der Nasszelle und im Frühjahr wurde endlich der tiefblaue Stoff für die Polster der Sitzbank geliefert. Nur eine dunkle Verfärbung im Holzboden und der feine süßliche Geruch sind geblieben. Um die Bird of Prey wieder seeklar zu machen, brauchte Léon letztendlich über zwei Jahre, und im Frühjahr 2001 war es dann endlich soweit. An einem herrlichen Vormittag wird sie zu Wasser gelassen. Fischer ist der Meinung, dass die Bird of Prey wieder ein wundervolles Schiff ist, ganz so wie er es damals vorhergesagt hatte. Die niedrigen Decksaufbauten, der steile Steven, das moderne S-Rigg und die zahlreichen Trimmmöglichkeiten machen die Bird of Prey wieder zu einem eleganten Cruising Racer.
Mächtig hängt das Schiff in den Haltegurten. Mit der Fernbedienung bedient Fischer den Travelerlift. Auf Knopfdruck beginnen Elektromotoren zu brummen, dazu senkt sich die Yacht. Léon schleicht am Bug vorbei, bückt sich und taucht direkt vor Fischer auf.
„Der Besitzer vor ihnen war auch so aufgeregt“, sagt
Fischer.
„Wie ich? Dann hatte auch er Sorge, ob die Gurte halten“, überlegt Léon mit Blick auf die Scheuerstelle.
„Robert hatte vor allem Angst, und genau wie Sie musste er alles kontrollieren.
„Warum?“, fragt Léon.
„Er hat das von seinem Vater. Der war extrem penibel.“
„Kannten sie ihn?“
„Nein, aber Robert hat mir von ihm erzählt. Bevor der Vater Professor wurde, wühlte er im Boden, machte Grabungen an der Ostseeküste und suchte nach historisch wertvollen Gräbern. Diese fand er nicht, aber die Reste eines Klosters, was ihn in Fachkreisen berühmt machte“, erzählt Fischer, während er an seiner Sammlerpfeife saugt und den Qualm hervorhustet.
„Dann kamen die Sanders aus dem Osten?“
„Nein, die Familie lebte am Griebnitzsee, in einer Villa“, antwortet Fischer, als die Yacht in das Wasser einsetzt.
Mit zwei Leinen verholen sie das Boot an den Steg, da wird Fischer von seinem Mitarbeiter gerufen. Léon hängt drei Fender über die Reling, schließt ab und da es schon spät ist, macht er sich auf den Weg zum Training.

Kapitel 5: Der Ausgangspunkt