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Kapitel 2

Ein Stück Leinenpapier

Donnerstagabend. Léon sitzt an seinem Schreibtisch. Er leert seine Taschen, betrachtet den Schlüsselanhänger und die in Form und Farbe ähnelnde Hutmutter. Falls der Schlüssel einmal über Bord gehen würde, ist der zylindrische Anhänger groß genug, um dem daran hängenden Bootsschlüssel im Wasser Auftrieb zu geben. Spielerisch schiebt er den Zylinder in den Gewindeeingang der Hutmutter und wundert sich:
„Es passt genau.“
Der Zylinder und die Hutmutter haben die gleiche fleckige Patina gebildet. Nur die Gravur Godewind 1932 hat durch die Jahre stark gelitten. Dennoch sind der Name und der tiefe Prägestempel des Wappens auf der Stirnseite noch gut zu erkennen. Mit der Lupe entdeckt Léon eine feine, kaum sichtbare Ringnut, welche das Wappen einfasst, während die Mutter an einer Seite mit einer abgeflachten Kalotte verschlossen ist.
Schließlich beginnt Léon mit seinem Laptop im Internet zu surfen und die Webseiten der Onlinezeitungen füllen seinen Bildschirm. Er stöbert in den Archiven der Nachrichtenblätter. In jedem Artikel verweist ein neuer Link auf den ungeklärten Mord an Robert Sander. Er war der Sohn eines Historikers, und Vermutungen weisen darauf hin, dass der Mord mit dem Erbe des Vaters zu tun hatte.

„Erst gefoltert, dann mit der Winschkurbel erschlagen“,
titelte die „Berlin Zeitung“.
„Sohn des berühmten Vineta Historikers wurde auf seiner Yacht ermordet. Der Mörder konnte mit einer Verletzung am Bein entkommen“, hieß es da weiter.
Während Léon in Gedanken versunken die Zeitungsartikel studiert, stützt er seinen Kopf auf die rechte Hand. Er zieht den Anhänger des Bootsschlüssels mit einem saugenden Geräusch aus der Hutmutter und schnippt mit einem Fingernagel rhythmisch dagegen; dabei nimmt er ein dumpfes Echo des Fingerklopfens wahr. Nachdenklich betrachtet er den durch die Jahre abgegriffenen Anhänger und die dazu passende Messingmutter.

„Godewind 1932“, liest Léon und murmelt den Bootsnamen leise vor sich hin.

Die Ringnut lässt ihn stutzig werden. Ein Gedankenblitz schießt ihm durch den Kopf. Daraufhin fasst Léon den Entschluss, den Anhänger zu öffnen. Er geht in den Keller, holt eine Rohrzange aus dem Werkzeugschrank, legt sie aber wieder zurück, da er sich sicher ist, dass er damit nur den schönen Zylinder zerstören würde. Am Schreibtisch steckt er beides wieder zusammen. Unter Druck beginnt er den Zylinder zu drehen, da rastet der Zylinder mit einem Klicken wie ein geheimnisvoller Schlüssel ein. Er beginnt die Mutter zu drehen, bis der Deckel in der Mutter stecken bleibt und er den offenen Zylinder herausziehen kann. Bröselige Schnipsel fallen auf den polierten Schreibtisch. Mit der Pinzette zieht er vorsichtig ein Stück steifen Stoff heraus. Vorsichtig rollt Léon den rissigen Fetzen aus. Das Wort „Standort 1/2“ und Zahlen in geschwungener Schrift, geschrieben mit bleicher Tinte, sind darauf zu lesen.
Léon kann mit diesen Zahlen nichts anfangen und steckt den Fetzen zurück in den Zylinder. Er schraubt den kleinen Behälter zu, um ihn in seiner Tasche zu verwahren.
In dem Moment, als Léon wieder auf den Bildschirm sieht, hört er jemanden eine Arie singen. Puccini im Treppenhaus macht Léon neugierig. Er öffnet die Tür. Flocke steht mit Zimmermannshut davor, einen, wie ihn die Wandergesellen auf ihren Reisen tragen. Anstatt ihn sofort darauf anzusprechen, schmunzelt Léon in sich hinein.
„Eine Klingel brauchst du jedenfalls nicht“, sagt Léon stattdessen.
„Leere Büroflure mit guter Akustik animieren mich zum Singen“, gibt Flocke seine Schwäche zu und stellt Léon neugierig eine Frage:
„Arbeitest du hier oder wohnst du hier?“
„Beides. Zuerst habe ich hier gearbeitet und dann hat es sich nicht mehr gelohnt am Abend nach Hause zu fahren.
„Aha, du lebst in einem Wohnbüroturm?“, fügt Flocke an, um die Sache auf die Spitze zu treiben.
„Der Architekt nennt es Rotunde. Mag sein, dass er von einem Leuchtturm inspiriert wurde, aber die gebogenen Wände und der Blick in alle Richtungen ist wohl der Grund, warum ich mich hier so wohl fühle.“
„Im Büro wohnen, das ist nichts für mich“, sagt Flocke und Léon denkt, was er dazu meint.
Er weiß, dass viele diesen Lebenswandel für merkwürdig halten, besonders Frauen, weil sie keine Gemütlichkeit wahrnehmen können. In fünf Zimmern, in denen es keinen rechten Winkel gibt, stehen Schreibtische mit großen Computerbildschirmen darauf. Nur ein Zimmer ist anders. Eine Couch aus Leder dient Léon als Bett. Der Schreibtisch über Eck, der große helle Wandschrank und die gebogene Fensterfront mit Blick auf das Filmgelände Babelsberg dominieren den ansonsten kargen Raum. Flocke nickt beeindruckt. Léon schnappt seine Sporttasche, dann machen sie sich auf den Weg.

Pünktlich um 20.15 Uhr sind Léon und Flocke vor dem Schwimmbad am Hüttenweg. Sie treten durch die Eingangstür und sehen zwölf Männer auf den Bänken in der Eingangshalle sitzen. Vor ihnen stehen große Sporttaschen, und bei einigen liegen Trainingsflossen darauf. Sofort wird Flocke von den Spielern mit seinem Spitznamen begrüßt. So erfährt Léon, dass ihn alle wegen seines gedrungenen Körpers Flocke nennen.
Léon bemerkt, dass er von einem mittelgroßen Spieler von Kopf bis Fuß gemustert wird. Léon wüsste gerne, was der jetzt über ihn denkt. Er ist sich aber sicher, dass er nicht wegen seines sympathischen Lächelns so in Augenschein genommen wird und versucht den Blick des Blonden zu ignorieren. Sein Blick wandert. Er entdeckt Flocke zwischen den großen Typen stehen und ihm wird plötzlich klar, was der Zimmermannshut bezwecken soll. Egal wie groß die Typen auch sind, ihn kann man mit diesem Hut einfach nicht übersehen. Als ein weiterer Spieler Léon mit geneigtem Kopf und wandernden Pupillen beobachtet, kann Léon einer Frau nachfühlen, die soeben von einem Mann mit den Augen entkleidet wird. Obwohl das hier offensichtlich nichts mit Anmache zu tun hat, fühlt sich Léon unwohl in diesem Maße unter die Lupe genommen zu werden. Er ist sich sicher, dass diese Musterung nicht dazu dient, das sexuelle Beuteregister abzugleichen, sondern dazu, die spielerische Leistungsfähigkeit einzuschätzen. Für Léon ist es eine beängstigende Vorstellung sich mit dem blonden Kerl, der mindestens zwanzig Pfund mehr auf die Waage bringt, unter Wasser zu prügeln und ist in diesem Moment sehr froh, dass er nur zum Zuschauen gekommen ist.
Ständig kommen weitere Spieler hinzu und fast jeder erkundigt sich bei Flocke, wer der Neue ist.
Nur zögerlich informiert Flocke die Fragenden und er antwortet so, als wenn er es bedauert, ihn mit hergebracht zu haben.
„Er ist bei mir im Kurs.“
Schlagartig verlieren sie das Interesse an dem Neuling. Léon wird klar, das Wort Kurs bedeutet hier nichts anderes als blutiger Anfänger und macht ihn für alle unsichtbar. Mit dieser Tarnkappe beobachtet Léon die Spieler und ihm fällt auf, dass jeder Ankömmling mit unterschiedlichem Respekt begrüßt wird. Kurz darauf gehen alle gemeinsam in den Umkleideraum, und Léon ist sich sicher, dass die gegenseitige Wertschätzung mit den spielerischen Qualitäten zu tun haben muss. Schon deshalb beginnt er die Körper der Spieler, wie die Rümpfe der Boote zu vergleichen.

Auf dem Weg zum Duschraum wird viel und laut geredet. Dazwischen hört Léon die Bemerkung eines brustbehaarten Spielers, der gerade die Badehosen über seine Knie streift.
„Mensch, du hast aber Biopreen zugelegt.“
Peinlichst berührt betrachtet der seinen Bauch, an dem Léon nichts Fettleibiges erkennen kann. Sein Brustkorb ist ausgeprägt, hat gut trainierte Oberarme und ist sonst eher von schlanker Natur. Dennoch nimmt er die Bemerkung mit einem selbstkritischen Blick entgegen.
„Mit 28 Jahren darf ich mir langsam eine Wärmeisolierung gönnen?"
Léon glaubt die körperliche Fitness jedes einzelnen Spielers einschätzen zu können. Er kann sich nicht daran erinnern, so viele gut trainierte Körper auf einmal gesehen zu haben. Aber auch korpulente Typen sind dabei. Da bemerkt Flocke Léons einschätzenden Blick. Er erklärt ihm beim Gang zum Duschraum, dass die Dicken unter Wasser ihr Gewicht nicht spüren, aber ihre Kraft voll einsetzen können und sie deshalb durchaus ernst zu nehmende Spieler sind. Unter der Dusche wird noch lauter geredet, um das laufende Wasser zu übertönen. Ein Spieler schreit gar seinen Duschnachbarn von der Seite an, während gegenüber ein anderer Spieler von einer ungewöhnlichen Geschichte berichtet.
„Schon gehört? Im Stechlinsee haben sie Knochen gefunden. Der See wurde wegen der Ermittlungen zum Tauchen gesperrt“, berichtet der Spieler in blauer Badehose.
„Den See kenne ich. Ich habe dort schon in dreißig Metern Tiefe eine Kuh gesehen! Der Kadaver war voll mit Aasfressern. Wir haben den Behörden nichts gesagt, weil sie das Tauchen für Monate verboten hätten“, erzählt derjenige mit weißer Badehose und fragt dann weiter.
„Wird die Sache aufgeklärt?“
„Ist schon geschehen. Das ist der Hammer. Ein Jagdhund soll die Kuh in den See getrieben haben, wo sie dann ertrunken ist“, berichtet der Spieler in blauer Badehose.
Léon wird übel und dabei fragt er sich, ob die Zwei diese Geschichte gerade für ihn erfunden haben, um seine Ekeltauglichkeit zu prüfen. Rasch beendet Léon das Duschen und versucht sich abzulenken, indem er an die Show denkt, die ihm gleich geboten wird. Er betritt die Schwimm-halle, findet aber keine Badegäste vor. Das Wasser ist unberührt und das Becken aus Edelstahl gibt dem Training eine gewisse Exklusivität. Die Sonne scheint durch die Fensterfront und bringt die riesige Metallfläche zum glänzen. In dem Moment, als ein Spieler seinen Fuß zur Temperaturmessung in das Wasser eintaucht, werden die Lichtstrahlen durch die Miniwellen tausendfach gebrochen und in den Raum flackernd reflektiert. Am Sprungbecken angekommen wird Léon von einem Spieler mit abgetragenen Ärmelschonern angesprochen. Auch von ihm wird Léon gemustert, aber dieses Mal mit geringschätzigerem Blick als noch zuvor. Er fragt Léon mit ruhiger Stimme, was er bisher Sportliches gemacht hat, und Léon erzählt ihm, dass er von Fußball bis zum Kampfsport alles Mögliche probiert hat. Nickend fragt Jörg Léon, ob er nicht gleich mitspielen will. Auf diese Frage ist Léon nicht vorbereitet und möchte nur ungern darauf eine Antwort geben. Stattdessen schaut Léon fragend zu Flocke hinüber. Da aber Flocke nur die Lippen zusammenpresst und die Augenbrauen gleichzeitig mit den Schultern hochzieht, ist von ihm keine Antwort zu erwarten. Zum Glück fällt Léon ein, dass er keine Ausrüstung hat und ist froh, doch nicht spielen zu müssen. Kurzerhand ruft Jörg in die Richtung der anderen:
„Hat jemand Ersatzflossen dabei?“
Prompt bekommt er von einem Spieler, der sich sein Grinsen offensichtlich nicht verkneifen kann, die schelmische Antwort:
„Aber natürlich!“
Kurz darauf hält Léon ein altes Paar Flossen und eine, an den Glasrändern vom schwarzen Schimmel angegriffene Taucherbrille, in seiner Hand. Am Schnorchel ist eine Beißwarze abgebissen und das Rohrstück wurde mit Tapeband nur dürftig repariert. Als Léon die geliehene Ausrüstung mit angeekeltem Gesichtsausdruck in Augenschein nimmt, kann er noch den Satz vom Eigentümer vernehmen:
„Behandele es gut, ordentliches Equipment, bekommt man heutzutage nur schwer!“
Léon ist damit sofort klar, dass eine Reklamation nicht angebracht ist. Er setzt ein krampfhaft freundliches Lächeln auf und ihm bleibt nichts anderes übrig, als nach den Spielregeln zu fragen. Die Erklärung folgt prompt und fällt für Léons Vorstellung unerwartet simpel aus.
„Es gibt keine!“ Jörg schaut Léon dabei starr ins Gesicht und wartet. Da Léon nicht reagiert, sondern nur die Stirn in Falten legt, ergänzt Jörg seine Antwort: „Achte darauf, dass du niemanden an der Ausrüstung zu fassen bekommst! Maske, Schnorchel, Kappe, Gelenkschoner, Badehose und Flossen sind tabu. Ansonsten ist alles erlaubt. Der mit dem Ball wird angegriffen. Unter Wasser stehen zwei weiße Eimer, die als Tore dienen. Da muss der Ball rein!“, fügt Jörg hastig hinzu, bevor er mit einem Sprung im Wasser verschwindet.
Das ist die kürzeste Beschreibung einer Regel, die Léon bei einem Ballspiel gehört hat. Da es so gut wie keine Spielregeln gibt, wirkt es auf ihn als Neuling nicht gerade beruhigend. Auch die anderen springen nacheinander ins Wasser und beginnen per Kraulschlag die 25 Meter Bahn entlang zu schwimmen.
Flocke erscheint am Beckenrand.
„Dreiviertel Stunde Einschwimmen!“, ruft er in die Richtung der Spieler, die nach Léons Meinung nichts verstanden haben dürften.
Léon schaut zu, wie schnell sich alle mit ihren Flossen durch das Wasser bewegen. Auf einmal ist er sich nicht mehr sicher, ob er wirklich mitspielen möchte. Einige von ihnen tauchen mehrere Bahnen, ohne auch nur einmal Luft zu holen. Andere schwimmen in einem hohen Tempo Bahn für Bahn und Léon hat nicht das Gefühl, dass danach auch nur einer außer Atem ist. Er versucht das gleiche, wird aber ständig von den anderen überholt. Durch die zu harten Flossen an seinen Füssen bekommt er schmerzende Krämpfe in seinen Waden. Als die 45 Minuten endlich vorbei sind, hören alle mit den Übungen auf und Flocke bestimmt zwei Spieler zum Einteilen der Mannschaften. Jörg und Tom sollen nun abwechselnd einen Mitspieler aussuchen. Mit den Händen in die Hüften gestemmt, warten einige gespannt auf den Ruf ihrer Namen. Léon stellt fest, dass bei der Einteilung eine enorme Nervosität unter den Spielern herrscht. Die Einteilung wird für Léons Geschmack ungewöhnlich ernst genommen, auch kann er an den Gesichtern erkennen, welchen Mitspieler sie sich auf ihre Seite wünschen. Zwischendurch gehen die Eingeteilten in eine Art Kurzberatung, um zu bestimmen, wer als nächster ausgewählt werden soll. Als nur noch Léon übrig ist, wenden sich alle ab und beginnen sich um ihre Ausrüstung zu kümmern. Dieses Verhalten macht Léon klar, dass er keinerlei Bedeutung für eine der beiden Mannschaften hat. Ihn völlig ignorierend spucken sie in ihre Tauchermaske oder streifen sich ihr Maskenband über ihren Hinterkopf. Auch Léon kommt diesem für ihn unappetitlichen Ritual nach und ist sich sicher, dass das Spucken wohl das Einzige ist, was er beim Tauchkurs gelernt hat und hier verwenden kann. Ohne es selbst zu merken, reibt Léon mit dem Zeigefinger so stark in seiner Brille rum, dass er dabei die Glasscheibe aus der Fassung drückt. Peinlich berührt versucht er die Taucherbrille zu reparieren. Wie aus dem Nichts, taucht der Besitzer vor ihm auf.
„Immer locker bleiben! Das ist kein Problem!“, beruhigt er ihn, gleichzeitig drückt er den Rahmen mit seinem rechten Daumen in die Nut.
So geht es dann doch los mit seinem ersten Spiel. Der Ball wird in die Mitte des Beckenbodens gelegt und Léon kann sich nicht erklären, warum er dort ohne ein Anzeichen von Auftrieb liegen bleibt. Es dauert nicht lange und Flocke gibt das Spiel mit den Worten, „Fertig und los“, frei. Sofort stürzen die Spieler dem mit Salzwasser gefüllten Ball entgegen. Aus der Nähe gesehen kann Léon nicht glauben, mit welcher Power die Spieler durch das Wasser jagen. Der erste, der im Ballbesitz ist, wird sofort von zwei Gegnern in die Zange genommen. Wie ein Rudel Haie stürzen sie sich auf ihre Beute, den Ball. Plötzlich beschleicht Léon der Gedanke, was wohl passieren könnte, wenn ihm der Ball zugespielt wird. Kaum hat Léon diese Möglichkeit zu Ende gedacht, ist ihm die Lust am Makrelenspiel vergangen und zieht es vor, außer Reichweite zu bleiben. Dabei ist ihm nicht klar, dass eine Flucht, bei einer Spielfeldgröße von achtzehn Metern Länge, zehn Metern Breite und drei Metern achtzig Tiefe so gut wie unmöglich ist. Dann geschieht auch schon das Unvermeidliche. Ein Pulk von Angreifern bewegt sich auf Léon zu. Er hat jetzt zwei Möglichkeiten, entweder abtauchen oder aus dem Becken zu klettern. Blitzartig entschließt er sich abzutauchen, da das Becken zu verlassen für ihn nicht in Frage kommt. Mit schnellen Flossenschlägen schiebt er sich in die Tiefe und der schmerzhafte Druck in seinen Ohren erinnert ihn daran, dass er den Druckausgleich vergessen hat. Wie beim Tauchkurs toben die Spieler über ihm, aber diesmal hat Léon zum Schutz die Arme oben. Er kann den Spielern, die um den Ball kämpfen, ausweichen und die Fußtritte am Kopf bleiben diesmal aus, aber ohne Tauchgerät fühlt er den beklemmenden Reiz zu atmen. Um nicht zu ertrinken, taucht er durch die Masse der Körper hindurch. Da setzt sich sein Mitspieler beim Gegner durch. Der passt Léon den Ball rüber. Léon greift reflexartig zu. Sofort stürzt sich ein Gegner auf ihn. Luftnot mit Panik macht sich bei ihm breit, als er im Bruchteil einer Sekunde seine Tauchermaske samt Schnorchel verliert. Der Ball flutscht aus seiner Hand. Wasser schluckend ringt er um Luft, da bügelt noch jemand über ihn hinweg, der den Ball greifen möchte. Mit letzter Kraft rettet sich Léon zum Beckenrand und würgt das Wasser hustend hervor. Er fühlt sich elend, der Kopf blutrot. Spuckend muss er das Wasser verlassen. Völlig durcheinander versucht er sich zu beruhigen, während die anderen diesen Vorfall überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen. Erst nach einer Weile fühlt sich Léon wieder besser und hört dann Flocke rufen:
„Letzter Ball!“
Alle Spieler tauchen sofort ab, um noch einen Angriff auszuführen.
Nach dem Duschen und Anziehen spricht Flocke ihn auf der Rückfahrt im Auto mit mitleidvollem Blick an.
„Die haben dich ganz schön bearbeitet!“, sagt Flocke, während er sein Gesicht zu Léon dreht.
„Das kann man sagen!“, bestätigt Léon ihm.
„Das kannst du als Kompliment auffassen!“, bemerkt Flocke ehrlich, was Léon natürlich nicht verstehen kann.
„Was…? Dass sie über mich hergefallen sind, soll ein Kompliment sein?“, fragt Léon entsetzt.
Flocke stoppt den Wagen an einer roten Ampel und schaut Léon an.
„Daran kann man erkennen, dass sie dich ernstgenommen haben“, erklärt Flocke, „Hänflinge und Frauen werden in der Regel nicht so hart rangenommen. Jedenfalls nicht, wenn es sich vermeiden lässt.“
„Vielen Dank für die bevorzugte Behandlung“, brummt Léon ungläubig, als der Wagen wieder weiter fährt.

In Gedanken ist Léon verwirrt. Ein Kunde überlässt ihm ein Schiff, und dann wird er bei einem Spiel verhauen, bei dem er nur Zuschauer sein wollte.
„Es hat dir doch gefallen?“, grinst Flocke ein wenig unverschämt.
Léon holt Luft, überlegt was er dazu sagen kann.
„Um das zu beurteilen, war ich viel zu viel mit dem Überleben beschäftigt“, gibt ihm Léon als Antwort.
In Wirklichkeit weiß Léon nicht, was er von diesem Sport halten soll. Es fällt ihm schwer eine passende Beschreibung zu finden. Im Nachhinein fand er es toll den Spielern zuzusehen, die elegant wie Fische durch das Wasser tauchten. Auch bewundert er ihre Energie und wieviel Spaß sie daran haben, unter Wasser gegeneinander zu kämpfen. Ob es für ihn das Richtige ist, kann er jetzt beim besten Willen nicht sagen.
„Was ist das für ein Spiel, bei dem man leicht jemand ertränken kann?“ fragt er Flocke mit forscher Stimme.
„Es ist eine Mischung aus Ballspiel und Kampfsport“, antwortet Flocke, „und ertrunken ist bei uns noch nie jemand“, fügt er noch hinzu.
„Ich hätte diesen Sport anders genannt!“, schlägt Léon trotzig vor.
„Zum Beispiel?“, fragt Flocke interessiert.
„Unterwasser Ringen, das würde besser zu dem Sport passen“, spottet Léon.“
„Beim Ringen ist aber kein Ball dabei und außerdem kämpfen da nur zwei gegeneinander. Der Name Unterwasser Rugby ist gar nicht schlecht!“, tut Flocke Léons Namensfindung als unsinnig ab.
Dieser Sport ist doch kein Abklatsch vom US Rugby. Dieser Sport hat einen eigenen Namen verdient!“, denkt Léon und lässt nicht locker.
„Unterwasser – Kampfball!“, sagt er dann.
„Das ist nicht schlecht. Sicher ist, dass in dem Namen das Wort Ball vorkommen muss, wie bei Fußball, Volleyball, Basketball oder Handball“, steigt Flocke unerwartet in die Namenssuche mit ein.
„Wasserball!“, poltert Léon.
„Das gibt es doch schon!“, reagiert Flocke gelangweilt.
„Wie ist es mit Tauchball? Auf Englisch heißt es dann Diving Ball.“
„Warum nicht, das hört sich besser an als Kampfball. Eigentlich hast du recht. Unterwasser Rugby hat einen unabhängigen Namen verdient. Es ist nur die Frage, ob sich der Name Tauchball bei den Spielern durchsetzen kann.“
„Wer weiß“, freut sich Léon und fühlt sich wieder besser, weil er glaubt, etwas geleistet zu haben.
„Ich hol’ dich nächste Woche wieder ab!“, bestimmt Flocke und da Léon nicht schnell genug reagiert, blieb es dabei.

Auch bei den kommenden Trainingseinheiten konnte sich Léon nicht gegen die manipulierende Art Flockes wehren und ging von da an regelmäßig zum Tauchball Training. Und obwohl er sich im Ballgemenge noch lange nicht sicher fühlte, stellt er sich noch oft die Frage, ob das der richtige Sport für ihn sei. Aber schon nach einem halben Jahr wird ihm bewusst, dass dieser Mannschaftssport ein wesentlicher Bestandteil seines Lebens geworden ist.

Kapitel 3: Insel Hispaniola